Vor vielen Jahren hat mir Ray Kurzweil eines seiner Bücher geschenkt, das dann, wie viele andere auch, ungelesen in meinem Bücherschrank landete. Nicht dass ich an den Thesen des klugen, ja genialen Kurzweil uninteressiert gewesen wäre. Ich glaubte nur, sie aus anderen Quellen schon hinreichend zu kennen. Unlängst spielte mir der Zufall das Buch wieder in die Hände und ich bemerkte verblüfft, dass Kurzweil mir eine knappe Widmung hineingeschrieben hatte: „Norbert, keep on transcending!“ Mir war natürlich klar, dass er mit dem Transzendieren nicht auf einen Gott, sondern den Übermenschen angespielt hatte. Und Übermensch heißt heute: so lange wie möglich leben – mit dem Grenzwert der Unsterblichkeit. Doch ist eine solche Haltung zum Leben sinnvoll?
Wider die Suche nach dem Bestmöglichen
Blicken wir zurück in die Antike. So wichtig die Schulunterscheidungen in allen anderen Fragen sein mögen – hier gibt es keinen Gegensatz zwischen Epikureern und Stoikern. Deshalb kann es auch nicht überraschen, dass Seneca Epikur ausdrücklich verteidigt, nämlich mit der These, sowohl in der Tugend der Stoiker also auch in der Lust des Epikur gehe es lediglich um das Naturgemäße. Wenn man das Naturgemäße nicht mit dem Natürlichen verwechselt, trifft diese These zu. Wie in der Stoa geht es auch bei Epikur um eine Lebenstechnik, die Herbert Simon „satisficing“ genannt hat. Es ist eine Technik des „genug“, die sich gegen Optimierung, also die Suche nach dem Bestmöglichen, und Pleonexie, also das Begehren nach immer mehr, richtet. Optimierung und Pleonexie fordern in Bezug auf das Leben selbst: Ich will so lange wie möglich leben, ja noch länger leben. Und in allem Ernst bot Ray Kurzweil in seinem Buch „Transcend“ eben eine Diät für das ewige Leben an.
Satisficing: Mein Leben ist gut genug
Das mag in dieser extremen, typisch amerikanischen Variante kurios klingen, aber es entspricht doch genau jener modernen Vorstellung vom sinnvollen Leben, die an die Stelle des guten ein möglichst langes Leben gesetzt hat. Angesichts dessen entfalten die stoisch-epikureischen Maximen eine enorme Provokationskraft. In dem Brief an Lucilius über die Kürze des Lebens ermahnt uns Seneca, nicht lange, sondern genug zu leben. Denn die Länge meines Lebens hängt letztlich vom Schicksal ab, aber die Frage der Lebensführung von meinem Entschluss. Das Leben wirklich führen oder bloß hindurchgetragen werden – das ist hier die Frage. Und im Blick auf die Lust reformuliert sie sich so: Was ist ein befriedigendes Ausmaß an Befriedigung? Die Lebenstechnik des Satisficing besagt: Mein Leben ist gut genug. Das heißt nicht, dass es nicht besser sein könnte. Und erst recht nicht, dass es das beste wäre. Aber ein sinnvolles Leben ist eben ein Leben, das gut genug ist und sich nicht von der Frage terrorisieren lässt, ob es das bestmögliche ist.
Die Beruhigungsformel des Alltags, die sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat, lautet bekanntlich „Alles gut“. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass wirklich alles gut wäre. In all ihrer Stereotypie ist die Formel doch wahrhaft menschenfreundlich, denn sie will uns die Last der Optimierung von den Schultern nehmen. Und eigentlich müsste sie lauten: Alles gut genug.
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