Auf den hohen Sockeln steht inzwischen kaum einer mehr: "Nathan der Weise" – viel zu christlich, "Wallenstein" – zweifelsohne zu männlich und für "Faust" ist die Zeit ohnehin abgelaufen. Er gilt in Zeiten von Cancel Culture vor allem als alter Chauvi und Vergewaltiger. Wohl auch deswegen besetzt Goethes "Menschheitsdrama" in diesem Winter erstmals nicht mehr die Pole-Position auf den Spielplänen deutscher Theater. Die Liste all jener Texte, die im Laufe der vergangenen Jahre in Verruf gerieten, ließe sich beliebig fortsetzen. Winnetou und dessen Schöpfer Karl May können davon ein Lied singen. Trotz der Heterogenität all dieser literarischen Zeugnisse, trotz ihrer unterschiedlichen epochalen Hintergründe haben sie eines gemein: Sie waren Teil eines über Jahrhunderte hinweg feststehenden Kanons, der sich seit geraumer Zeit für viele kaum merklich, aber sukzessive in Auflösung befindet.
Nicht ganz zu Unrecht! Denn zutreffend ist in der Tat die Kritik etwa von feministischer und antirassistischer Seite, dass unser Verständnis dessen, was wir unser abendländisches Erbe nennen, zum einen primär von weißen Männern handelt und zum anderen primär von alten, weißen Männern geschrieben wurde. Diese schwierige Dyade zu durchbrechen, indem man beispielsweise vermehrt lange vergessene weibliche Stimmen in den Stand unumgänglicher Klassiker hebt, hat also nicht nur seine Berechtigung, sondern dürfte dringend geboten sein.
„Wo jeder sich nur noch in der eigenen Echokammer bewegt
und gegenüber anderen vor allem um Abgrenzung bemüht ist,
erweist sich ein Kanon als anachronistisches Gebilde“
Endlich hat man mit jüngeren Werkausgaben die christlich geprägte Dichterin Christine Lavant oder Hermynia zur Mühlen, eine der wesentlichen Miterfinderinnen des Genres des sozialistischen Märchens, wiederentdeckt. Dasselbe gilt für die Barocklyrikerin Sibylla Schwarz oder Anna Louisa Karsch, die "deutsche Sappho" des 18. Jahrhunderts. Auch ihnen wird eine späte und zweifelsohne wünschenswerte Aufmerksamkeit zuteil. Doch mit der Integration von Frauen in "Reclams Universalbibliothek" scheint es bei Weitem noch nicht getan.
Vermehrt vernimmt man auch den Ruf nach der Berücksichtigung von Autoren anderer Ethnien und Hautfarben wahr. Hinzu kommen Vertreter, deren sexuelle Orientierung einer "nicht- heteronormativen Matrix" entspringt sowie all jene überhörten und marginalisierten Schreiber, die einem bis heute währenden Klassismus zum Opfer fielen. Schließlich war auch das die deutsche Literatur und das deutsche Theater allzu oft: ein Projekt der Eliten, Reichen und Schönen.
Kanones dienen der Rechtfertigung und Abgrenzung
Würde man nun all diese Partikularberechtigungen berücksichtigen, so müsste der Kanon eine Gesellschaft der Gleichheit abbilden und nachträglich Gerechtigkeit schaffen. Doch was soll er eigentlich leisten? Entspricht es seiner Aufgabenbeschreibung, alle Minderheiten zu spiegeln und geschichtlich gereifte Auswahlprozesse schlichtweg zu korrigieren? Die Literaturwissenschaftlerin Simone Winko hebt vor allem drei Funktionen von Kanones hervor: "Erstens tragen sie zur Selbstdarstellung und Identitätsstiftung einer Gruppe oder Gesellschaft bei: Die Mitglieder der Gruppe sehen in ihnen Normen und Werte repräsentiert, die die Gruppe konstituieren. Zweitens haben Kanones Legitimationsfunktion; sie dienen der Rechtfertigung und Abgrenzung der Gruppe gegen andere. Und drittens liefern Kanones Handlungsorientierung." (Handbuch Literaturwissenschaft II) Etwas vereinfacht gesagt, stellt deren verbindliche Textauswahl Denken und Fühlen, ja, die innere Befindlichkeit einer sozialen Gemeinschaft dar. Sie beruht also auf etwas Verbindendem, auf einer milieuübergreifenden Einheit.
Gewiss birgt diese Ambition einige Schwierigkeiten, gerade in einer zunehmend individualisierten und segmentierten Gesellschaft. Wo jeder sich nur noch in der eigenen Echokammer bewegt und gegenüber anderen vor allem um Abgrenzung bemüht ist, erweist sich ein Kanon als anachronistisches Gebilde. Die die ganze Familie ansprechende Primetime gibt es weder in der Prosa noch im Theater. Damit sind wir bei der Krux angelangt. Klagen nicht immer mehr Hochschullehrer und Pädagogen über die zunehmende Leseschwäche und fehlende Allgemeinbildung der Nachwuchsgeneration? Sollte das Bildungssystem, das den Bolognaprozess über sich ergehen lassen musste, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, nicht genau den Anspruch auf einen Mindeststandard erheben und durchsetzen?
Böses gehört zur Ordnung, damit das Gute sich bewähren kann
Richtig ist: Es geht bei der Frage, was ein Kanon noch leisten kann und soll, letztlich um eine entstandene Identität. Nehmen wir noch einmal das über Jahrhunderte meistgespielte und derzeit aus manchen Pflichtkorpora der Lehrpläne gestrichene Drama "Faust". Nachdem der titelgebende Universalgelehrte mit dem Studium der Bücher an die Grenzen des irdischen Wissens gestoßen ist und diabolische Mächte heraufbeschwört, gerät er – verführt von dem charismatischsten Teufel überhaupt – rasch auf moralische Abwege.
Denn auf dessen Wunsch hin, endlich auch Einlass in das Reich der Begierden zu erhalten, spielt ihm sein gerissener Widerpart Mephisto das unschuldige Gretchen zu, das der Wissenschaftler skrupellos schwängert und zuletzt als Kindsmörderin einsam im Gefängnis zurücklässt. Fausts Kälte und Ignoranz schockiert. Heute mehr denn je. Dennoch wird er am Ende erlöst, weil er gerade in seinem Irren einen göttlichen Plan erfüllt. Er repräsentiert das schon im Prolog angelegte und auf stetem Streben beruhende Menschenbild. Er reift an seinen Mängeln und steht für eine sich dynamisch erneuernde Ordnung, in der überdies auch das Böse, also Mephisto, seinen Platz hat. Nur da es auch ihn gibt, kann sich das Gute im Sinne einer kosmologischen Dialektik bewähren.
Eine weite Bandbreite der Interpretation des „Faust“
Exakt so dreht sich der Welten Lauf. Insbesondere als westliches Drama gelesen, kann man "Faust" als Ikone und Vorbild einer Kultur des Fortschritts ansehen. Möglicherweise lässt sich in ihm – mitsamt seiner auch problematischen Hybris – ebenso ein Vorläufer für das in der Spätmoderne unter Selbstausbeutung leidende Leistungssubjekt erkennen. So oder so spiegelt er einen Bewusstseinskern der europäischen, wenn nicht gar deutschen Seelengemeinschaft. Zudem vermittelt er uns das Porträt einer Epoche, die Weimarer Klassik, in der noch einmal die Idee einer vollkommenen Schönheit, einer Ebenbildlichkeit zwischen Innerem und Äußerem gegeben war. Vergegenwärtigen wir uns dies, bemerken wir überhaupt erst, wie sich das Schöne im Laufe der Moderne zur Figur des Gebrochenen entwickeln konnte.
Es ließe sich an zahlreichen Dramen und Romanen aufzeigen, wie sie unser Hier und Heute geprägt haben. Von diesen historischen, generisch gewachsenen Linien abzuweichen, um letztlich tatsächliche oder vermeintliche Gruppen stärker zu repräsentieren, würde den damit verbundenen Wertekonsens empfindlich in Richtung Relativismus verschieben. Jeder würde sich dann seine Lesebiografie gänzlich ohne Konstanten zusammenstückeln. Aber worüber unterhielten wir uns dann noch? Worüber staunen wir dann noch gemeinsam im Theater? Wie lässt sich Streitkultur pflegen, wenn man den viele verbindenden Gegenstand aus dem Auge verliert? Gewiss darf auch unser Kanon nicht in Stein gemeißelt sein. Dann würde er nichts anderes als ein Objekt für das Museum hergeben. Indem wir stattdessen immer wieder seine Lücken und seine Unzulänglichkeiten thematisieren, bleiben wir im lebendigen Gespräch – über das, was uns ausmacht.
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