Malerei: Kunst als Grenzüberschreitung
Wie Gegenwarts- Künstler die Transzendenz suchen und erleben.
Wo liegt die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn, wo genau verläuft die Linie zwischen Kunst ohne und Kunst mit Transzendenzbezug? Gibt es das überhaupt: Kunst ohne transzendente Dimension? Will nicht jede Kunst den Betrachter einladen, die Grenzen des gegenständlich Bekannten zu überschreiten, neue Seh- und Erkenntnismöglichkeiten eröffnen? Jenseits des Konventionellen?
Und: wird die Grenze, die zwischen der sakralen und profanen Sphäre liegt, von der Kirche selbst nicht auch seit Jahrhunderten immer wieder überschritten, indem man Blut, Haare, Zähne oder sonstige physische Überbleibsel von besonders begnadeten Persönlichkeiten zu Reliquien erklärt und kultisch verehrt? Auch profane Sterbeorte, wie etwa der Weichsel-Stausee beim polnischen Wocawek, wo im Jahr 1984 der selige Jerzy Popieuszko ertränkt wurde, können die Aura des Übernatürlichen annehmen und mit religiösen Symbolen geschmückt werden. Oder man denke nur an die Geburtshöhle Christi, die aufgrund der Verehrung der Christen mit einer Kirche, der sogenannten "Geburtskirche", sakralisiert wurde.
Die Grenzen zwischen Profanität und Sakralem sind fließend

Die Grenzen zwischen Profanität und Sakralem, Realität und Transzendenz sind also fließend; es wäre zu eng gedacht, würde man Kunst und Transzendenz auf Bilder mit einer dezidiert religiösen Symbolsprache reduzieren, obwohl dies in der modernen Kunst, wie das bekannte Phänomen des Künstlers Michael Triegel zeigt, auch auftritt. Nach dem Studium der Malerei an der renommierten Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst wurde der 54-Jährige im Jahr 2010 durch sein Porträt Papst Benedikts XVI. international bekannt. Seitdem hat Triegel, der sich inzwischen hat katholisch taufen lassen, viele weitere Bilder mit christlichen Motiven gemalt, unter anderem eine sehr persönliche Interpretation des Barmherzigen Jesus, welche in einer Würzburger Kirche zu bestaunen ist.
Auch andere große deutsche Namen der modernen Kunst haben keine Berührungsängste mit der Religion bewiesen: So hat Neo Rauch, ein anderer berühmter Vertreter der Neuen Leipziger Schule, den Naumburger Dom mit einer ganz dezenten Darstellung der Heiligen Elisabeth auf rubinrotem Glasfenster geschmückt. Das christliche Engagement der Heiligen wirkt bei Rauch, verstärkt durch die wohl dem sozialistischen Realismus entnommene Formensprache, als geradezu selbstverständlich, normal - und dadurch provozierend für Gläubige wie Nicht-Gläubige.

Richter-Fenster ist Wahrzeichen des Kölner Doms
Ein Effekt, den auch Gerhard Richter mit seinem Kirchenfenster im Kölner Dom erzielte. Eigentlich sollte in dem fraglichen Fenster im Südquerhaus an die Märtyrer des 20. Jahrhunderts erinnert werden, doch Gerhard Richters abstrakter Entwurf setzte sich vor fast 20 Jahren im Kölner Domkapitel durch. Heute gehört das "Richter-Fenster" längst zu den Wahrzeichen des Gotteshauses und zieht in kongenialer Ergänzung zu den Reliquien der Hl. Drei Könige zahlreiche Besucher aus aller Welt an. In einem Buch des Kirchen- und Kunsthistorikers Ralf van Büren findet man eine gelungene Beschreibung der Licht- und Farbeffekte, die im Kölner Dom dank Richter nun zu bestaunen sind: "Aus diesem Zusammenspiel von Zufall und Kalkül entstand ein abstrakter Farbklangteppich, dessen Partikel bei einflutendem Tageslicht farbig leuchten. Sie sind nicht mit Bleiruten zusammengehalten, sondern auf einer Trägerscheibe mit Silikon-Gel fixiert, so dass die farbigen Facetten ohne die in der Glasmalerei üblichen Begrenzungslinien wechselseitige Interaktionen hervorrufen. Zudem verändert der unterschiedliche Lichteinfall fortwährend die Farbwirkung des Fensters."

Man könnte auch sagen: Durch die offenen Bewegungen des Lichts wird der Betrachter eingeladen, sich ganz unvoreingenommen für die Dimension des Unendlichen zu öffnen. Ein Thema, das viele zeitgenössische Künstler umtreibt. Etwa die 93-jährige Japanerin Yayoi Kusama, die mit Installationen wie "Infinity Room" oder "Polka Dots" seit Jahrzehnten weltweit für Aufsehen sorgt. Früh litt Kusama unter Ängsten und Halluzinationen beim Umgang mit bestimmten Formen: "Ich sah auf das rote Muster der Tischdecke, als ich aufblickte, bedeckte dasselbe rote Muster die Decke, die Fenster und die Wände, und schließlich den ganzen Raum, meinen Körper und das Universum. Ich begann mich selbst aufzulösen, und fand mich in der Unbegrenztheit von nicht endender Zeit und in der Absolutheit der Fläche wieder. Ich reduzierte mich auf ein absolutes Nichts."
Das künstlerische Arbeiten als Therapie
Für Kusama wurde das künstlerische Arbeiten zur Therapie, wie auch für den in Japan geborenen Aktionskünstler Jonathan Meese, der erst mit Anfang 20 die Freiheit fand, sein Leben der Kunst zu widmen. Seitdem versucht er seine "Dämonen" mit provozierenden Auftritten, Statements und Gemälden zu bewältigen. Aus Sicht des bald 53-Jährigen ist Kunst zwar keine Religion, aber "jede Religion ist Kunst". Was ihn, der auch schon in einer Kirche ausgestellt hat, antreibt, beschreibt Meese so: "Ich glaube, wir müssen in der Philosophie, in der Literatur, in der Kunst so dermaßen radikal sein, dass es in der Realität nicht mehr möglich ist, das zu toppen. Das ist sozusagen mein kindisches Bild."
Wer die Realität kennt, weiß: keine leichte Aufgabe aber auch eine Vision der Grenzüberschreitung, vielleicht sogar der Unendlichkeit.
Musik: Technologie, Transzendenz und Schönheit
Von Arvo Pärt bis Hania Rani: Wie in der zeitgenössischen Musik die Schönheit ein Comeback feiert.
Mit Beginn der 1990er Jahre tauchte in Europa eine neue Musikströmung auf, die man mit dem Titel "New Spirituality" versah. Komponisten, die man dieser Strömung zuordnete, waren und sind Arvo Pärt, Henryk Górecki, John Tavener, Péteris Vasks und Joep Franssens. Was diese Komponisten miteinander verband, war die Abgrenzung von der atonalen Musik, die als modernistische Reaktion auf die Weltkriege aufgekommen war. Hinter dem Label "New Spirituality" verbarg sich die romantische Sehnsucht, wieder stärker die Schönheit der Musik zu akzentuieren, die persönliche Empfindung und die Sphären der Transzendenz. Wobei kurioserweise eine Reihe von New Spirituality-Komponisten konfessionell gebundene Künstler waren, die ihr Schaffen persönlich gar nicht so freischwebend spirituell deuteten, sondern eingebunden in ein religiöses Programm oder zumindest in ihrem privaten Frömmigkeitsrahmen: Arvo Pärt - russisch-orthodox, John Tavener - russisch-orthodox, Henryk Górecki - römisch-katholisch, Sir James Loy MacMillan - römisch-katholisch.

Sinn für Melodik und Minimalismus
Inzwischen ist eine neue Generation, eine "New Spirituality 2.0", wenn man so will, auf die Bühne getreten, die vieles von dem, was die bereits genannten älteren Komponisten wiederentdeckten, wie etwa den Sinn für Melodik und Minimalismus, weiterführt. Ohne ein dezidiert konfessionelles Programm, doch nicht minder sensibel für Transzendenz-Erfahrungen in der Musik und durch die Musik.
So schwärmt der deutsch-britische Komponist Max Richter (*1966), der zweifellos zu den wichtigsten Vertretern dieser Strömung gehört, im Gespräch mit dem Online-Medium "Big Issue" von der Musik der Renaissance. "Die Verschmelzung von kraftvoller Technik und der emotionalen Wirkung von etwas wie Allegris ,Miserere - man hat das Gefühl, dass man verändert ist, wenn man diese Musik hört. Ich bin nicht religiös in einem formalen Sinne. Ich bin ... spekulativ, könnte man sagen. Aber dieses Stück Allegris, dieser unglaubliche Spezialeffekt, die Diskantlinie, die bis zum hohen C geht, das ist wie, oh mein Gott, der Himmel ist offen." Und weiter: "Stellen Sie sich vor, Sie hätten so etwas vor Jahrhunderten in einer Kathedrale gehört, als die Menschen noch in winzigen Räumen ohne jegliche Akustik lebten. Wie hat es sich angefühlt, in diesen erstaunlichen Raum mit dieser Resonanzakustik zu gehen und diese gewaltigen Klänge zu hören? Es muss absolut betörend gewesen sein. Die Architektur dieser mittelalterlichen Kathedralen erzeugte einige sehr niederfrequente Resonanzen, so dass man diese stehenden Unterschallwellen unterhalb der Hörschwelle bekam. Aber man kann sie spüren. Man kann die Schwingungen förmlich spüren. Was für ein unglaubliches Stück mittelalterlicher Technologie."
Kein mystischer Künstler auf der Bühne
Offen für die Verbindung von Technologie, Transzendenz und Schönheit ist auch der 36-jährige lafur Arnalds (*1986) aus Island, der sich als Multiinstrumentalist und elektronisch-klassischer Klangzauberer international einen Namen gemacht hat - obwohl er im Unterschied zu Richter, der an der University of Edinburgh und der Royal Academy of Music in London eine gediegene musikalische Ausbildung genossen hat, sein Musikstudium abbrach, weil er es als zu elitär empfand. Etwas von dieser Haltung ist haften geblieben. Bei seinen Konzerten plaudert Arnalds gern mit dem Publikum: "Ich persönlich spreche bei meinen Konzerten viel und gerne mit den Leuten, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich dadurch auf dieselbe Ebene begebe wie sie und nicht mehr ein mystischer Künstler auf der Bühne bin, sondern mich einfach auf den Boden bringe, wo alle anderen sind, und wir diesen musikalischen Dialog miteinander führen und nicht nur ein einseitiges Gespräch. Ich mag diesen ganzen Gott-Komplex nicht."

Wie eine eigenständige Mischung der Wege von Richter und Arnalds wirkt der bisherige Werdegang der jungen Polin Hania Rani, die 1990 in Danzig zur Welt kam und in Warschau Klavier studiert hat. War auf ihrem ersten Solo-Album "Esja" (2019) nur das Klavier zu hören, mit kristallklaren, perlenden Klängen, so hat die ebenso sensible wie gutaussehende Künstlerin im Jahr 2022 mit "Home", ihrem zweiten Solo-Album bewiesen, dass sie auch die moderne Elektronik in ihr künstlerisches Schaffen integrieren kann zu dem inzwischen auch ihr feiner, mädchenhafter Gesang gehört.
Im Frühjahr 2023 wird von Rani, die eigentlich Hanna Raniszewska heißt, ein Soundtrack zum Werk des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti erscheinen. Nicht ihr erster Ausflug in die Filmwelt, so hat die fleißige Polin bereits den "Venice - Infinitely Avantgarde"-Soundtrack geschrieben und einige polnische Spielfilme und Theaterinszenierungen vertont, etwa den Film "xABo: Ksidz Boniecki", der dem katholischen Geistlichen Adam Boniecki gewidmet ist, dem langjährigen Chefredakteur der Zeitung "Tygodnik Powszechny", für welche schon Józef Tischner und Karol Wojtya schrieben. Besonders das zu diesem Werk zählende Stück "In Between" ist eine zarte Meditation über Zeit und Vergänglichkeit, das in seiner Schlichtheit berührt. Zusammen mit der Cellistin Dobrawa Czocher veröffentlichte Rani im Jahr 2021 bei der Deutschen Grammophon das Werk "Inner Symphonies", das ebenso einlädt, sich stärker mit der "New Spirituality 2.0" auseinanderzusetzen.
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