Wenn ein Kind geboren wird und heranwächst, gehört es zu den Lieblingsbeschäftigungen der Angehörigen, herauszufinden, von wem es die Nase, die Augenfarbe, eine bestimmte Handhaltung oder Charaktereigenschaft hat. Auch bei einem besonderem künstlerischen oder musikalischen Ausdrucksvermögen wird in der Regel die Frage gestellt: Von wem hat es das?
„Die Geschichte schöpferischer Familien ist,
wie man nicht zuletzt an Musikersippen mit ihren
vielfältigen Talenten sehen kann, eine nahezu unendliche, in
jedem Fall aber lohnenswert zu studierende“
Dabei ist es keine Frage, dass besondere Talente vererbt werden können. Allerdings brauchen sie, um sich entfalten zu können, auch günstige Bedingungen. Dazu gehört die wohlwollende Unterstützung durch das familiäre und schulische Umfeld, aber auch der Wille, die eigene Begabung durch beständiges Training zu entfalten. Ablesbar ist dieses Phänomen besonders gut in Familien, die der Schöpfer besonders reich mit Talenten gesegnet hat. An ihnen wird sichtbar, wie das Zusammenspiel zwischen genetischer Disposition, Förderung und eigener Selbstmotivation funktioniert.
Wolfgang Amadeus Mozart war vier, als sein Vater Leopold merkte, mit welchem Interesse sein kleiner Sohn dem Klavierunterricht seiner fünf Jahre älteren Schwester Maria Anna folgte. Er zeigte Neugier und Talent von einer Intensität, die die Aufmerksamkeit des Vaters herausforderte. Leopold Mozart war zum Glück nicht nur ein ausgezeichneter Musiker, sondern auch ein hervorragender Pädagoge. Die Violinschule, die er verfasste, gilt noch heute als Standardwerk für einen guten Unterricht. Offenbar verfügte er über die Fähigkeit, die für den Unterricht nötige Konsequenz und Strenge mit menschlicher Wärme zu verbinden. Er hat seine Kinder gerne unterrichtet. Und das gilt nicht nur für Wolfgang Amadeus, der heute im Fokus des Interesses steht, sondern auch für dessen Schwester Maria Anna, die als Sängerin und Pianistin über eine gute Begabung verfügte.
Die Mozarts wollten die Besten sein
Leopold Mozart unterwies seine Kinder nicht nur musikalisch, er sorgte auch für ihre schulische Ausbildung. Dies war schon deshalb nötig, weil die gesamte Familie vom Jahr 1762 an gewissermaßen ständig auf Reisen war. Denn der Wunderkindtopos hatte bei allem frühen Ruhm den Nachteil, dass Wunderkinder schnell altern. Es galt also, die außergewöhnliche Begabung des Sohnes breitflächig bekannt zu machen und zugleich die Möglichkeiten für eine professionelle Karriere als erwachsener Musiker vorzubereiten. Leopold Mozart muss über ein außergewöhnliches Talent für PR verfügt haben. Er knüpfte ein Kommunikationsnetz, innerhalb dessen die Begabung seines Sohnes sich für die Familie gewinnbringend entfalten konnte.
Die Voraussetzung dafür war ein Künstlerleben mit vielen Ortswechseln, das von der ständigen Notwendigkeit lebt, sich in neuen Verhältnissen zurechtzufinden und sich auf neue Menschen einzustellen. Glückte dies, konnte man Kontakte knüpfen, öffneten sich Türen, erhielt man Kompositionsaufträge. Die Mozarts wurden dort, wo es ihnen gelang, sich an die Schaltstellen des gesellschaftlichen Lebens anzukoppeln gewissermaßen von Salon zu Salon weitergereicht. Sie konnten konzertieren, Kompositionen verkaufen und neue Projekte verabreden. Neben Begabung und Talent für PR hatten die Mozarts noch eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft: Sie wollten die Besten sein.

Bei Mozarts trieb der Vater die Karriere
Als Wolfgang Amadé sich mit seiner Mutter in Mannheim aufhielt – länger als seiner Karriere förderlich war und noch dazu wegen einer Frau – schrieb der Vater wütend: „Fort mit Dir nach Paris! Und das bald. Setze dich großen Leuten an die Seite. Aut Caesar aut nihil“, was auf deutsch in etwa heißt, sei der Beste, sonst bist du nichts. Mancher wird an dieser Stelle vielleicht Mitleid haben und sich fragen, ob der Sohn hier ein Opfer des Karriere-süchtigen Vaters wurde. Aber der Drang, als Künstler ganz oben zu stehen, gehörte offenbar zum Erbmaterial der Mozarts.
Erblich waren musikalische Begabung und der Ehrgeiz, sie zu entfalten, auch in der insgesamt ungewöhnlich schöpferischen Familie Mendelssohn. Felix Mendelssohn Bartholdy übte mitunter so viel, dass er, wie er selbst schrieb, danach „Orgelpassagen auf der Straße“ ging. Wie bei den Mozarts wurden auch die Mendelssohnkinder zuhause ausgebildet. Fanny erhielt zum Beispiel Klavierunterricht bei ihrer Mutter, die als Schülerin Johann Philipp Kirnbergers Enkelschülerin Johann Sebastian Bachs war. Ihre Fähigkeiten als Pianistin galten nicht nur in ihrer Familie als außerordentlich. Johann Wolfgang von Goethe sagte über Fanny, sie spiele „wie ein Mann“, die aus seiner Sicht höchste Anerkennung für das, was Fanny selbst als „singen mit den Fingern“ bezeichnete. Ihre Tätigkeit als Komponistin beginnt Fanny im Alter von 15 Jahren. Genau zu diesem Zeitpunkt schreibt ihr Vater Abraham Mendelssohn ihr in einem Brief:
Abruptes Ende einer Karriere für eine Frau: Fanny Mendelssohn
„Die Musik wird führ ihn [Fannys Bruder Felix Mendelssohn] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, immer Bildungsmittel, Grundbaß Deines Seins und Tuns werden kann und soll. Ihm ist daher Ehrgeiz, Begierde, sich geltend zu machen in einer Angelegenheit, die ihm wichtig vorkommt, weil er sich dazu berufen fühlt, eher nachzusehen, während es dich vielleicht nicht weniger ehrt, dass du von jeher Dich in diesen Fällen demütig und vernünftig bezeugt und durch deine Freude an dem Beifall, den er sich erworben, bewiesen hast, dass Du ihn Dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen. Sie sind weiblich und nur das Weibliche ziert und belohnt die Frauen.“
Eine berufliche Laufbahn als Musikerin wurde ihr ebenso untersagt wie die Veröffentlichung ihrer Kompositionen. Zugleich aber schuf die Familie ihr mit den Sonntagsmusiken im Gartensaal des Mendelssohnschen Anwesens an der Leipziger Straße 3 in Berlin ein Podium, auf dem sie sich bis zu ihrem frühen Tod als Leiterin der Konzertreihe, Solistin und Dirigentin präsentieren konnte. Das Verdikt der beruflichen Tätigkeit und der Publikation durch die Familie beruht auf der aus ihrer – und der damaligen Gesellschaft - Sicht, dass sich eine Erwerbstätigkeit für Frauen, sofern sie nicht Angehörige der Unterschicht waren, einfach nicht gehöre. Ausnahmen machte man nur in Fällen wie dem von Clara Schumann, der ihr Ehemann ebenfalls das Konzertieren und die Veröffentlichung ihrer Werke untersagt hatte, die aber schon während seiner psychischen Erkrankung ihre Tätigkeit als Konzertpianistin wieder aufgenommen hatte, um die Familie zu ernähren.
Ein selbstverständliches Hineinwachsen in den Beruf des Musikers
Johann Sebastian Bach wuchs als jüngstes von acht Kindern des Eisenacher Stadtpfeifers und Hoftrompeters Johann Ambrosius Bach ganz selbstverständlich in den Beruf des Musikers hinein. Violinunterricht erhielt er von seinem Vater, Orgelunterricht von dessen Cousin Johann Christoph, der als Organist an der Eisenacher Georgenkirche wirkte. Ungeachtet seiner zu Zeiten Bachs nur circa 600 Einwohner war das Musikleben Eisenachs so lebhaft, dass eine ganze Reihe professioneller Musiker in der Stadt ihr Auskommen hatten.
Nach dem Tod beider Eltern lebte Bach von seinem 9. Lebensjahr an bei seinem Bruder Johann Christoph in Ohrdruf, der ihm parallel zu seiner schulischen Ausbildung Unterricht in Cembalo, Orgel, Musiktheorie und Orgelbau erteilte. Bach galt als sehr guter, fleißiger Schüler des Lyzeums und der Prima und erhielt aufgrund seiner Leistungen ein Stipendium, das zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes beitrug, ihn zugleich aber verpflichtete, den Söhnen der Stifterfamilien Privatunterricht zu erteilen.
Bachs Söhne wurden von seinem Ehrgeiz mitgerissen
Mit 14 Jahren wechselte Bach gemeinsam mit einem Freund in die Partikularschule des Lüneburger Michaelisklosters, wo er durch Vermittlung seiner Familie einen Freiplatz erhielt, für den er im Gegenzug Chordienste leistete. Johann Sebastian war der erste aus der Familie Bach, der eine zum Universitätsstudium qualifizierende Schulausbildung abschloss und nicht nach der schulischen Grundausbildung direkt in den Musikerberuf wechselte. Diesen Ehrgeiz gab er auch an seine als Musiker brillierenden Söhne weiter, die dann ihrerseits ihm den Weg an die Königshöfe ebneten und zur Komposition des König Friedrich gewidmeten „Musikalischen Opfers“ führte.
Die Geschichte schöpferischer Familien ist, wie man nicht zuletzt an Musikersippen mit ihren vielfältigen Talenten sehen kann, eine nahezu unendliche, in jedem Fall aber lohnenswert zu studierende.
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