Viele von uns haben die Videos gesehen: die attraktive finnische Regierungschefin Sanna Marin schwingt in einer eng anliegender Hose gekonnt die Hüfte und feiert gut gelaunt mit ihren Freunden. Nach erneuten Aufnahmen von der Party steht diese sympathische junge Frau fast unter Tränen vor den Cameras und rechtfertigt sich. Ja, wofür eigentlich? Dafür, dass sie „auch ein Mensch“ sei und sich nach Freude und Leben sehnt. Wer würde etwas dagegen einwenden wollen? Und doch fielen die Reaktionen nicht nur positiv aus.
„Die ,finnische Affäre‘ der vergangenen Wochen zeigt, dass sich ein großer Teil des konservativen Publikums an einer feiernden Regierungschefin überhaupt nicht stört, sondern sich auch ein Stück mehr Lässigkeit für alle wünscht“
Neben solchen, welche die Bilder schlicht für eine Regierungschefin unwürdig hielten, meldeten sich bezeichnender Weise die „Russland-Versteher“ zu Wort. Sanna Marin dürfe zwar tanzen, ihr Verhalten sei jedoch für die westliche Dekadenz und Sinnentleertheit typisch. Eine Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung im Hier und Jetzt. Es sei der Zeitgeist des unmittelbaren Spaßes und der Verantwortungslosigkeit. Erstaunlich nur, dass gerade diese Kritiker sich nie zu Frauen- und sonstigen Eskapaden eines Gerhard Schröder oder Donald Trump äußerten und sie in Verbindung mit ihrer Politik brachten.
Für welchen Zeitgeist würden jene dann stehen? Dass Sanna Marin den freiheitlichen westlichen Lifestyle und Hedonismus repräsentieren würde, behaupteten aber nicht nur ihre Kritiker, sondern auch manche ihrer Unterstützer. Diese Freiheit und lebensfrohe Art seien das, was uns von den Spießbürgern und engstirnigen Ideologen unterscheiden würde.
Sie stellt Bildung in den Mittelpunkt
Ich finde: Man sollte das vermeintliche Vergehen der finnischen Regierungschefin auch nicht überinterpretieren. Sanna Marin ist mit ihren 36 Jahren ein Ausnahmetalent und führt ihr Land erfolgreich durch die Krisenzeiten – das zählt. Sie brachte Finnland in die NATO, befürwortet die Kernkraft und ist gegen Cancel Culture. In diesen Tagen kündigte sie Vorbereitungen für die Senkung der Energiepreise und neue Maßnahmen für den Arbeitsmarkt an. Als Premierministerin kümmert sie sich ebenfalls intensiv um das Thema der Bildung, weil sie es für die Basis der Zukunft Finnlands hält. Noch dazu ist sie bei der Bevölkerung beliebt.
Mehr Beweise braucht es wohl nicht, um zu zeigen, dass jene geleakten Aufnahmen nichts anderes zum Zweck hatten, als die junge überzeugende Politikerin zu schwächen und an ihrem positiven Image zu kratzen. Das erkannte offensichtlich auch ihr konservativer polnischer Konterpart Mateusz Morawiecki, der Marin in echter Polit-Gentleman-Manier zur Seite sprang: „Ich bin sehr froh, dass sie etwas Freude mit uns geteilt hat“. Außerdem habe die finnische Kollegin gute Gründe zu feiern, schließlich sei ihr Land der NATO beigetreten.
Auch Konservativen stören sich nicht an Menschlichkeit einer Regierungschefin
Fazit: Die „finnische Affäre“ der vergangenen Wochen zeigt, dass sich ein großer Teil des konservativen Publikums an einer feiernden Regierungschefin überhaupt nicht stört, sondern sich auch ein Stück mehr Lässigkeit für alle wünscht. Dies bedeutet aber nicht, dass wir nun aus Sanna Marin eine neue Ikone der liberalen Werte machen müssen. Sie machte mit diesem „Skandal“ eine unangenehme Erfahrung, die ihr vielleicht helfen wird, künftigen Leichtsinn und echte Fehler zu vermeiden. Tanzen soll sie natürlich weiterhin!
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