Feuilleton

Roter Terror

Standen östliche Geheimdienste hinter der RAF? Von Ingo Langner
Beim Schweigemarsch gedachten etwa 3 000 Bankangestellte des ermordeten Vorstandssprechers der Dresdner Bank Jürgen Ponto
Foto: dpa | Mit einem Schweigemarsch durch die Frankfurter Innenstadt gedachten etwa 3 000 Bankangestellte des ermordeten Vorstandssprechers der Dresdner Bank, Jürgen Ponto. Er war am 30.

Es ist immer das alte Lied: Wenn in der deutschen Öffentlichkeit über die Rote Armee Fraktion (RAF) nachgedacht wird, stehen die Täter im Vordergrund und nicht ihre Opfer. Und wenn namhafte Regisseure wie Margarethe von Trotta, Volker Schlöndorff oder Uli Edel aus der RAF einen Spielfilm machen, fragt man gespannt, welcher Mime wohl welchen Terroristen spielen darf, und Cineasten können leidenschaftlich darüber streiten, ob Barbara Sukowa oder Johanna Wokalek die bessere Gudrun Ensslin war und Moritz Bleibtreu der idealtypische Andreas Baader.

Wie sich die Angehörigen und Freunde der von der RAF Ermordeten bei solchen „rein“ kulturellen Diskursen fühlen, ist kaum bekannt und dem im RAF-Kontext besonders empathieschwachen gutlinken Medienmainstream scheinen die Emotionen der Hinterbliebenen auch heute noch ziemlich egal zu sein.

Immer noch unvergessen ist jener „Stadtindianer“, der im Asta-Blatt der Universität Göttingen unter dem Pseudonym „Mescalero“ dem am 7. April 1977 im siebenundfünfzigsten Lebensjahr ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback nachrief: „Meine unmittelbare Reaktion, meine ,Betroffenheit‘ nach dem Abschuss von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören. Ich weiß, dass er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken eine herausragende Rolle spielte.“ Auch der spätere deutsche Außenminister „Joschka“ Fischer befand sich 1978 auf dem nämlichen moralischen Niveau wie sein Göttinger Genosse. Fischer schrieb seinerzeit im Frankfurter Szenemagazin „Pflasterstrand“: „Bei den drei hohen Herren (gemeint waren Siegfried Buback, Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer) mag mir keine rechte Trauer aufkommen.“

Wichtig zu wissen: Mescalero und Fischer waren keine Einzelstimmen. Ihre unbarmherzigen Auslassungen brachten nur auf den Punkt, dass die teuflische Trinität aus Klassenhass, Dünkel und Dummheit vor dreißig Jahren in Deutschland allgegenwärtig war. Wer das nicht wahrhaben will, kann in dem kürzlich erschienenen Dialogbuch „Patentöchter. Im Schatten der RAF“ nachlesen, was die beiden Autorinnen Julia Albrecht und Corinna Ponto einander zu sagen haben.

Jeder mit der Blutspur der RAF einigermaßen Vertraute horcht auf, wenn er die Namen Ponto und Albrecht hört. Und das mit gutem Grund. Denn am 30. Juli 1977 wird der damals 53-jährige Jürgen Ponto in seinem eigenen Haus von den RAF-Mitgliedern Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt erschossen. Seine beiden Mörder konnten deshalb ohne Probleme in sein Heim eindringen, weil Susanne Albrecht den „Türöffner“ machte. Als langjährige Freundin der Familie Ponto hatte sie Klar, Mohnhaupt und sich mühelos Eintritt verschaffen können.

Ihr Vater Hans-Christian Albrecht und Jürgen Ponto sind Studienfreunde gewesen. Ihre Freundschaft hatte auch dann noch Bestand, als die beiden Juristen Familienväter wurden und jedem auf seine Weise im Nachkriegsdeutschland eine imposante Karriere gelang. Der Seerechtler Albrecht als Anwalt und Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und Ponto, Spross einer Hamburger Kaufmannsfamilie, innerhalb der Dresdner Bank – wo er als Hausjurist begann und es bis zum Vorstandsvorsitzenden brachte.

Zeichen ihrer Verbundenheit waren auch die Patenschaften, die Hans-Christian Albrecht für Jürgen Pontos Tochter Corinna und vice versa Ponto für Albrechts jüngste Tochter Julia übernahm. Und Julia Albrecht und Corinna Ponto sind es nun auch, die nach dreißig Jahren den Mantel des Schweigens, der seit jenem verhängnisvollen 30. Juli 1977 die Freundschaft der beiden Familien erstickt hat, in den Schrank der Geschichte hängen.

Julia Albrecht war dreizehn Jahre alt, als sich ihre Schwester Susanne zum Verrat entschloss. Und Julia ist es auch, die initiativ wird und der sieben Jahre älteren Corinna einen vorsichtigen ersten Brief schreibt, der so schließt: „Es ist nicht mein Anliegen zu versuchen, etwas zurechtzurücken oder zu verteidigen. Die schreckliche Tat meiner Schwester ist mir zutiefst fremd. Der Verrat (meiner Schwester Susanne) an Ihrer Familie wiegt für mich unendlich schwer, und er ist für mich so unbegreiflich, so unvorstellbar wie kaum etwas Anderes auf der Welt.“

Julia Albrecht war aufgeregt, nachdem sie den Brief abgeschickt hatte und wusste nicht, was sich daraus ergeben würde. Doch Corinna Pontos Antwort kam prompt: „Liebe Julia Albrecht, dass Sie mich in Ihrem Brief mit ,Sie‘ anreden, ist sehr feinfühlig – also werde auch ich so antworten (...) Wir sollten uns sehen – immer wieder habe ich auch an Sie und Ihre Empfindungen und Ihren Schrecken gedacht. Das geht mir sehr nahe.“

Nachdem einige Briefe gewechselt wurden, kam es zum ersten Treffen. Das offenbar gut verlief. Denn nun beginnen die beiden Frauen einander zu erzählen, wie sie den Mordtag erlebt haben und was mit ihnen und ihren Familien unmittelbar und in den Jahren danach geschah. Und es ist wahrlich ein Glücksfall, dass Corinna Ponto und Julia Albrecht ihren Erinnerungsdialog allgemein zugänglich in einem Buch konzentriert haben.

Es ist deshalb ein Glücksfall, weil uns gezeigt wird, dass und wie auch nach schweren seelischen Verwundungen Versöhnung möglich ist. In eigentlich jedem Versöhnungsprozess spielt der Zeitfaktor eine ganz wichtige Rolle. Offenbar brauchen wir Menschen einen zeitlichen Abstand von dem Ereignis, das Zwietracht gesät hat. Ob es, wie in diesem Fall, immer dreißig Jahre sein müssen, steht dahin. Aber möglicherweise wohnt dieser Zeitspanne – die bekanntlich auch eine Generationenfolge bezeichnet – etwas Bedeutsames inne.

Aber nicht nur in Punkto Versöhnung ist der Dialog „im Schatten der RAF“ bedeutsam. Vor allem Corinna Ponto ist es, die mit ihren Nachforschungen in der Birthler-Behörde für Stasi-Unterlagen Fragen aufwirft, die den historisch nur scheinbar längst ausgedeuteten Komplex Rote Armee Fraktion in ein neues Licht stellen könnten. Was nämlich Frau Ponto in einer erstaunlichen Fülle vorlegt, sind Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, die darauf hindeuten, dass das MFS wesentlich intensiver in den Terror der RAF verwickelt oder sogar eingebunden war, als man hierzulande bislang wahrhaben möchte.

Allgemein bekannt ist, dass Susanne Albrecht und neun weitere sogenannte RAF-Aussteiger um das Jahr 1980 herum in der DDR untergetaucht sind, dort von der Staatssicherheit eine neue Legende erhielten und ohne die deutsche Wiedervereinigung vermutlich noch heute im „Realen Sozialismus“ leben würden. Alle Zehn sind dann im Juni 1990, also gut sechs Monate nach dem Mauerfall, vom Bundeskriminalamt innerhalb nur einer einzigen Woche verhaftet und später vor Gericht gestellt worden. Susanne Albrecht wurde am 3. Juni 1991 zu einer zwölfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, aus der man sie 1996 auf Bewährung entließ. Seitdem arbeitet sie als Lehrerin für einen freien Träger in Norddeutschland.

Doch, so lautet eine von Corinna Pontos vielen diesbezüglichen Fragen: Welchen dienstlichen Auftrag hatte der DDR-Oberst und Terrorspezialist Jäckel, der laut seiner MfS-Kaderakte vom Mai 1977 bis August 1979 in der Bundesrepublik gelebt hat? Also genau in jenem speziellen Zeitraum, in den die Morde an Jürgen Ponto (30.7.77) und Hanns Martin Schleyer (18./19.10.77) fallen, die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt worden ist (13.–18.10.77), bei der Flugkapitän Jürgen Schumann von den Entführern erschossen wird, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis von Stammheim Selbstmord begehen und auf den NATO-Oberbefehlshaber in Europa, US-General Alexander Haig, ein Bombenanschlag verübt wird (25.6.79) – bei dem Haig überlebt – und bei diesem Bombenanschlag mit Susanne Albrecht, Ralf Baptist Friedrich, Werner Lotze und Sigrid Sternebeck just jene beteiligt waren, die 1980 in der DDR untergetaucht sind?

Zugespitzt formuliert läuft Corinna Pontos umfassende Recherche in den MfS-Unterlagen auf die Frage hinaus, ob es sich bei dem RAF-Terror tatsächlich um die Verbrechen einer letztlich recht überschaubaren Gruppe westdeutscher Wohlstandsdesperados gehandelt hat oder ob die Terroristen der Roten Armee Fraktion (auch) so etwas wie Marionetten des Kalten Krieges waren und – vielleicht sogar ohne es selbst recht zu wissen – am mal langen, mal kurzen Gängelband sozialistischer Geheimdienste geführt worden sind. Und ob die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, des Vorstandsprechers der Dresdner Bank Jürgen Ponto, des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, des Chefs des Triebwerksherstellers MTU Ernst Zimmermann (am 1.2.1985), des Siemens-Vorstands Karl Heinz Beckurts (am 9.7.1986), des Ministerialdirektors im Auswärtigen Amt Gerold von Braunmühl (am 10.10.1986), des Vorstandssprechers der Deutschen Bank Alfred Herrhausen (am 30.11.1989) und des Chefs der Treuhandanstalt Detlev Karsten Rohwedder (am 1.4.1991) keine Entscheidungen nach Maßgabe der logistischen Möglichkeiten der RAF und ihrer linksradikalen Gesinnung waren, sondern von jenen Stalinisten im Ostblock initiiert worden sind, die an einer wie auch immer gearteten „Liberalisierung“ ihrer sozialistischen Diktaturen kein Interesse hatten.

Auffällig ist immerhin, dass alle Genannten im west-östlichen Handelsgeschäft tätig waren oder als sogenannte Atlantiker eine Brückenfunktion für die deutsch-amerikanischen Ost-West-Beziehungen hatten.

Mit anderen Worten: Nach dem Dialog der beiden Patentöchter Julia Albrecht und Corinna Ponto muss die Terrorgeschichte der RAF möglicherweise tatsächlich neu geschrieben werden.

Julia Albrecht/Corinna Ponto:
„Patentöchter – Im Schatten der RAF – ein Dialog“
.
Verlag Kiepenheuer & Witsch 2011, 240 Seiten, ISBN-13: 978-346204- 277-1, EUR 18,95

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