Feuilleton

„...dass in eine Zeit, die so ohne Boden ist, ein Mann gestellt wird wie Guardini...“

Am 18. Juli hat Kardinal Reinhard Marx bekannt geben lassen, dass die Eröffnung des Seligsprechungsprozesses bevorstehe. Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Der junge Romano Guardini
Foto: KNA | Auf die jungen Jahren Guardinis folgte ein erfülltes Forscherleben.

Romano Guardini starb vor 48 Jahren im ominösen Jahr 1968 und ruht seit Juli 1997 in St. Ludwig, im Herzen der Münchner Universität. Eine kleine Gruppe italienischer Verehrer wandte sich 2012 nach Norden, um Mitstreiter für eine Seligsprechung des Unvergessenen zu finden, der aufgrund einer eben erscheinenden italienischen Gesamtausgabe auch sein Geburtsland „erobert“. Die Frage war, ob man nicht Papst Benedikt XVI. das Anliegen vortragen könne, der ihn häufig in seinen Ansprachen zitierte, sogar noch zweimal in der letzten Rede Ende Februar 2013 an die Kardinäle. Tatsächlich schrieb der Papst wörtlich und freudig zustimmend im Juli 2012: „So könnte dieser große Meister des Denkens auf den Glauben hin und im Glauben mit einem neuen Gewicht in der Öffentlichkeit der Kirche und der Welt stehen.“ Kardinal Reinhard Marx hat nun am 18. Juli bekannt geben lassen, dass die Eröffnung des Seligsprechungsprozesses bevorstehe.

Damit rückt ein stiller Mann erneut ins Licht der Öffentlichkeit, das ihn zu Lebzeiten bereits begleitete. Guardini war durch sein italienisch-deutsches Leben, sein Priestertum und seine universitäre Lehre verankert an mehreren Orten. Geboren wurde er am 17. Februar 1885 in Verona nahe der Arena, lebte als Kind, Gymnasiast und dann Kaplan bis in seine Habilitationszeit 1920 in Mainz, verbrachte häufig die Ferien im Wohnort seiner Mutter, zuerst am Comer See, dann in Isola Vicentina bei Vicenza, wohnte als Professor für christliche Weltanschauung in Berlin, Tübingen und München. Und natürlich auf Burg Rothenfels am Main, wo er zwischen 1920 und 1939 seine Meisterschaft der Jugendführung erwarb. Auch andere Institutionen und Orte rücken ins Licht: die Katholische Akademie in München, die Guardini mit einer Ansprache eröffnete; die Guardini Stiftung in Berlin, die sein Andenken mit einer Stiftungs-Professur hochhält (während in München der Guardini-Lehrstuhl gerade geschlossen wird); und nicht zuletzt das kleine Mooshausen bei Memmingen, wo Guardini während des Krieges 1943–1945 Zuflucht im Pfarrhaus seines Freundes Josef Weiger fand.

Unterstützende Stimmen über Jahrzehnte hinweg

Worin leuchtet nun nach so vielen Jahren der Glanz seines Denkens und mehr noch seiner Person auf?

„Als Guardini neulich in unserem Kreise saß, im Dunkel des Rittersaales, nur durch den milden Schein einer Kerze bestrahlt, da musste ich unwillkürlich an den Heiland denken, wie er umgeben von seinen Jüngern lehrte. Ein herrlich mild gütiges Gesicht, voller Bescheidenheit, Demut, allein durch die Kraft der Wahrheit wirkend. Ich will den gütigen Menschen nie vergessen. Vieles hat er mir geschenkt.“ So notierte ein junger Quickborner und späterer Atomphysiker, Kurt Jaroschek, im August 1920 auf Burg Rothenfels am Main in sein Tagebuch, über einen damals fast noch unbekannten 35-jährigen Priester – der unverhofft alle in seinen Bann schlug.

Ein viel späteres Zeugnis über den berühmt gewordenen Berliner Professor schreibt eine junge Künstlerin und spätere Konvertitin, Anny Schröder aus Berlin, am 15. Juni 1944 an P. Willibrord Verkade in Beuron: „Es kann einen wohl nachdenklich machen, dass in eine Zeit, die so ohne Boden ist, wo alles schwankt, ein Mann gestellt wird wie Guardini, mit diesem, alles an seine richtige Stelle bringenden, klaren sauberen unbestechlichen Geist. Bei Guardini geriet ich nie in den Zustand des Nichtverstehenkönnens. – Der Herrgott behüte ihn für alle. Ganz muss er uns doch nicht verworfen haben, sonst hätte er nicht diese Hilfe gesandt.“ Oder eine heiligmäßige evangelische Christin, Margarete Dach, notiert ebenfalls in der Nazizeit: „...ein Goldwäscher ist der Mann“.

Zahllose andere Aussagen in den Nachkriegsjahren, als Guardini in Tübingen (1945–1958) und dann in München (1948–1962) lehrte und predigte, ließen sich anführen. Dass auch die Weiße Rose, insbesondere Willi Graf, aus Guardinis Schriften gelebt hat, ist bekannt. Für die junge Widerstandsgruppe hieß das bewegende Stichwort „Wahrheit“. Gerade diese Anstrengung um die Wahrheit wurde offenbar im Auditorium ebenso wie in der Ludwigskirche in München gespürt. Und Wahrheit war in Guardinis Augen zutiefst von Absichtslosigkeit begleitet. Viel später schrieb er in seiner fragmentarischen Autobiographie „Berichte über mein Leben“ im Rückblick auf manche Predigten, gänzlich uneitel: „Die Wahrheit ist eine Macht; aber nur dann, wenn man von ihr keine unmittelbare Wirkung verlangt (...) Wenn irgendwo, dann ist hier die Absichtslosigkeit die größte Kraft. (...) Manchmal, besonders in den letzten Jahren, war mir zu Mute, als ob die Wahrheit wie ein Wesen im Raum stünde.“ Aber es war nicht eine selbstgenügsame Wahrheit, aus der Abstraktion geboren. Der Philosoph Max Scheler, der den jungen Privatdozenten 1922 in Bonn traf, erkannte auf den ersten Blick in ihm nicht nur die „Ordnung“ des Glaubenden, sondern den Eros des Erziehers; Scheler, selbst glaubensmäßig zerrissen, bezeichnete ihn noch kurz vor seinem Tod als den „deutschen christlichen Pädagogen schlechthin“. Diesen Lehrer von fast drei Generationen deutscher Jugend nannte Abt Hugo Lang OSB einen Praeceptor Germaniae.

Mit der Seligsprechung würde man also in Guardini nicht allein einen Theologen gewinnen, sondern vor allem einen ungewöhnlichen Erzieher, einen Meister der Menschenbildung. Schon in seinem ersten Berliner Semester 1923 formulierte er: „Liebe ist zugleich Ehrfurcht. Sie tastet nicht andere an, herrscht nicht, vergewaltigt nicht, sondern dient. Das beste Werk der Liebe ist, andere zu ihrer wahren Freiheit zu bringen, gleichviel ob die Liebe von Eltern zu Kind, Erzieher zu Zögling, Geschlecht zu Geschlecht gemeint ist.“

Diese Sätze waren nicht am Schreibtisch entwickelt. Guardini hatte seit 1915 in Mainz an der Juventus (einer kirchlichen Jugendgruppe) und seit 1920 in Rothenfels seine Meisterschaft in der Jugendführung entfalten können. In Rothenfels gingen Tausende von Heranwachsenden durch seine Schulung. Programmatisch schrieb er dazu 1928 an die Gruppenleiter: „Was immer wir gesagt haben, hatte seinen Sinn nur innerhalb der Tatsache: Dass dieser lebendige Mensch da ist. Sein Da-Sein ist der Erziehung entzogen. Er tritt ein in die Wirklichkeit, mit seinem Schicksal in sich. Er tritt ein mit Gesetzen, Kräften, Forderungen. (...) Es ist ein Geheimnis, dass wir einmal begonnen haben, zu sein; als diese Menschen. Da empfingen wir unsere Wirklichkeit in uns; Möglichkeit und Grenze. Und was da wurde, begann sich zu rühren und zu schaffen. Das ist unser Glück und unsere Last. Und alles, was Erziehung heißt, bedeutet nur, dienend, helfend, heilend innerhalb dieses Geheimnisses bleiben. Dort hat es seine Sicherheit.“ Ja, dieser Dienst hat sogar zur rechten Zeit zurückzutreten, wie Guardini seit 1921 in den Briefen über Selbstbildung ausführte. Diese Briefe sind ein elementarer Wurf. Denn darin schält sich der entscheidende Überschritt heraus: sich letztlich nicht von anderen führen zu lassen, sondern sich selbst zu führen. Damit war der Sinn aller pädagogischen Bemühung getroffen: aus der Fremderziehung zur Selbstbildung überzuleiten.

Anschauung der Welt mit dem Blick Christi

Eine kühne Kennzeichnung des universitären Lehrers könnte lauten: „Er ist ein Denker augustinischen Geblüts; von jener Art, darin sich Metaphysik und tiefes Wissen um die Seele verbinden. Zugleich ein Humanist, von feiner Kultur des Wortes. Und ein Erzieher jener großen Art, die mit geringstem Aufwand erzieht; durch das, was sie ist, durch die Atmosphäre, die sie schafft, und eine lebenzeugende, aus ruhiger Schönheit schwingende Liebe. Er ist noch mehr gewesen: ein confessor, der einen großen Kampf mit unüberwindlicher, aber ganz stiller Kraft führt.“ Kühn ist diese Kennzeichnung, weil sie von Guardini selbst 1924 auf den großen mittelalterlichen Denker Anselm von Canterbury geschrieben wurde. Dennoch enthält sie so viel von ihm selbst, dass sie tatsächlich den ruhig schaffenden, unerhört wegweisenden Lehrer porträtiert. Guardini wirkte im Konzept seiner „christlichen Weltanschauung“, wie er sie ab 1923 an der Berliner Universität entwickelte, immunisierend gegen die Nationalsozialisten. In den christlichen Blick auf die Welt bezog Guardini große abendländische Gestalten ein (Sokrates, Augustinus, Dante, Hölderlin, Rilke, Kierkegaard und viele andere); mit ihnen blickte er prüfend auf die „Sachhaltigkeit“ des Christentums und stellte diese Gestalten umgekehrt unter das Maß der Offenbarung – so wagte er zum Beispiel, Rilke christlich zu kritisieren. Sein Berliner Hörer Victor von Weizsäcker formulierte: „Immer muss er einen Ketzer an seine Brust drücken und mit ihm ringen. Karl Barth ist imposant, Josef Wittig ist liebenswert, Guardini ist ergreifend.“

Auch in Tübingen und München füllte er jeweils das Auditorium Maximum. In diesen Jahren war sein Denken von der geistigen Überwindung des Nationalsozialismus gekennzeichnet. Seine Vorlesungen kreisten mit großer denkerischer Energie um Ethik (erst 1993 kamen zwei Bände „Ethik“ heraus), um Anthropologie und schließlich um die Gottesfrage. Zugleich folgen späte Ehrungen durch Kirche und Öffentlichkeit (darunter der „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“ 1952), aber auch die letzten, schmerzlich von einer Gesichtsneuralgie verdunkelten Jahre.

Die Tagebücher „Wahrheit des Denkens – Wahrheit des Tuns“ (postum 1976) und die „Theologischen Briefe an einen Freund“ (postum 1980) zeigen jenen Guardini, der in seinem Alter mit der Angst vor der Endlichkeit ringt.

Heutiger „Naturgläubigkeit“ hätte Guardini widersprochen

Nur in der Öffnung auf den Schöpfer wird die dunkle, mächtige, verschlossene, endliche „Erde“ von sich selbst gelöst. Die „Natur“ ist nicht einfachhin das Richtige oder gar selbst Göttliche: Der heutigen „Naturgläubigkeit“ hätte der große Lehrer zutiefst widersprochen. Denn die Natur trägt nichts anderes als das Siegel der Endlichkeit, sie ist Leben, das immer wieder im Tod untergeht. Gott ist für den späten Guardini Antwort auf diese Bedrohung, er ist Lösung aus dem verzehrend Endlichen („Die letzten Dinge“, 1940). Dieser Verheißung zu trauen heißt den Bann des bloß Natürlichen zu brechen, heißt Blut und Geist, Sehnsucht und Denken zusammenzubringen – was die selten geübte Kraft des Herzens ausmacht.

Der große Deuter des menschlichen Daseins hat sich zu vielen Themen geäußert. Bei einer der berühmten Umfrage, welche zehn Bücher man auf eine Insel mitnehmen würde, stand in den 1950er Jahren „Das Ende der Neuzeit“ auf dem ersten Platz. Was Guardini hier zum Bestehen der übermäßigen Machtfülle durch die Technik an behutsamen und zugleich unnachgiebigen Vorschlägen aus christlicher Erhellung sagt, liest sich heute unabsichtlich modern und wurde ausgiebig in „Laudato si?“ zitiert.

Aber schon vor seinem Tod legte sich ein Schweigen auf ihn, das für rund 20 Jahre anhielt. Beim 100. Geburtstag im Jahre 1985 zeigte sich jedoch, dass über alles Zeitgebundene hinweg erneut etwas Ursprüngliches, der Charakter des Wahren und Richtigen in Guardinis Werk hervortritt. Wer es versuchen will: Nach wie vor ist „Der Herr“ (1938) eine in seiner Art unübertroffene Auslegung Christi. Daneben steht der klassische Erstling „Vom Geist der Liturgie“ (1918), ferner die großen Deutungen der Literatur: das Hölderlin-Buch (1937), „Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk“ (1932), die mehrfachen Dante-Studien, aber auch die kulturkritischen Arbeiten „Die Macht“ (1951), „Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik“ (1947), die frühen „Briefe vom Comer See“ (1927).

Guardinis Werk ist deswegen so bezwingend gewesen – und es zeichnet sich ab, dass sich dieses Bezwingende wieder einstellt –, weil seine Schriften aus einer tiefen Verflechtung von Person und Gedanken stammen. Tatsächlich, unsentimental zu hören: eine „Theologie des Herzens“. Professoren gibt es viele; mit Guardini erhält die Kirche einen Confessor, einen Bekenner und Menschenbildner.

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