Gertrud von le Forts Roman „Der römische Brunnen“ war 1928 zunächst unter dem Titel „Das Schweißtuch der Veronika“ erschienen; diesen Titel trägt nun der Doppelroman (neu aufgelegt 2018 im Be&Be-Verlag Heiligenkreuz), nachdem le Fort 1946 mit „Der Kranz der Engel“ eine Fortsetzung veröffentlicht hatte. Immer schon war der erste Band ein geeigneter literarischer Reisebegleiter in die ewige Stadt – in Zeiten, in denen das Reisen physisch nicht stattfinden kann, ermöglicht er eine wunderbare Reise in der Imagination des Kopfes und ist zugleich die perfekte Vorbereitung für die nächste leibhaftige Romreise.
Zentrum und titelgebendes Symbol ist der plätschernde Sarkophagbrunnen im Hof eines alten römischen Palais zwischen Santa Maria sopra Minerva und dem Pantheon, in dem die 16-jährige Protagonistin Veronika, deren Bekehrungsgeschichte le Fort erzählt, mit ihrer Großmutter und ihrer Tante lebt. Der in höchstem Maße symbolisch aufgeladene Raum spiegelt in der Zuordnung der Bauwerke und Gebäude die Geistigkeit der Protagonisten. Der Pantheon als ehemaliges Heiligtum aller Götter des antiken Roms (und nicht als heutige Kirche Santa Maria ad Martyres) ist etwa der architektonische Hauptbezug der Großmutter Veronikas, einer kultivierten und hochgebildeten „alten Heidin“, wie sie sich selbst nennt. Mit Blick auf den Pantheon wird die Großmutter schließlich auch dem Tod entgegentreten.
„... als wäre ich durch die ganze Welt gegangen“
In le Forts römischem Innenstadtroman, der um 1911/12 spielt, ist von Urbanisierung oder Metropolisierung wenig zu spüren, Autos etwa oder Menschenmenge tauchen nur ganz vereinzelt auf, als unbedeutende Randerscheinungen.
Was die Repräsentation des physischen Raums betrifft, so ist eine große Wirklichkeitsnähe in le Forts Text festzuhalten, was mehreren, zum Teil sehr ausgedehnten Romaufenthalten der preußischen Baronesse geschuldet (1907, 1909, 1926) ist. Als Leser sind wir im Roman „Der römische Brunnen“ tatsächlich vor Ort, hinsichtlich der Bezüge der Gebäude zueinander, hinsichtlich der Wege, die die Figuren des Textes zurücklegen, auch hinsichtlich der Dimensionen und Proportionen der Raumgestaltung. Die Kaiserforen in ihrer schaurigen Großartigkeit der Vergänglichkeit („... so als liefen die geisterhaften Zeichen einer großen, dunklen, halberloschenen Schrift hier über alle Häuser und Straßen hin“) werden dem Leser ebenso plastisch vor Augen gestellt, wie die Via Appia, die zum Schicksalsweg der Großmutter wird, die Fontana di Trevi oder die Spanische Treppe. Unvergleichlich eindrucksvoll ist die Vollmondszene im Kolosseum, von wo aus Veronika und ihr junger Dichterfreund Enzio, getrieben von schaurigen Geschichtsvisionen, wie in einem Albtraum durch das nächtliche Rom irren. Nachdem sie via Engelsbrücke den Tiber überquert hat, wird Veronika durch die Strahlkraft des unter dem Baldachin von Sankt Peter ausgesetzten Allerheiligsten der Verzweiflung und Abgründigkeit entrissen: „In diesem Augenblick blitzte ein Gefühl in mir auf, als wäre ich durch die ganze Welt gegangen und stünde nun vor ihrem innersten Herzen.“ Veronikas Glaubensweg beginnt mit dieser überwältigenden Erfahrung der göttlichen Liebe – das Glück des Anfangs wird jedoch bald von der Frage des Leides herausgefordert.
Ein Panorama des Katholischen
„Der römische Brunnen“ ehrt auf vielerlei Weise das antike Rom, ist aber dennoch vor allem der Roman des katholischen Roms. In le Forts erzählter Rom-Topographie spielen Kirchen eine zentrale Rolle: Abgesehen von Sankt Peter, dem Baptisterium des Lateran oder San Pietro in Vincoli, bilden drei weitere Kirchen, nämlich Santa Maria sopra Minerva, die Klosterkirche Maria Reparatrice in der Via Lucchesi und Santi Cosma e Damiano insofern eine Gruppe, als sie im Text als sakrale Räume vorkommen, in denen aktuell ein liturgisches Geschehen stattfindet. Zusätzlich nimmt jeweils Veronikas Tante Edelgart knieend an der Liturgie teil und wird von der Ich-Erzählerin Veronika unmittelbar mit einem „Geheimnis“ in Verbindung gebracht, das das glaubenslos aufgewachsene Mädchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht deuten kann: „Das Geheimnisvollste von allem aber schien mir doch meine Tante Edelgart, die dort unter anderen Andächtigen kniete.“ „Innige Stille und noch ein feierliches Anderes, das ich nicht zu deuten vermochte, erfüllten den Raum.“ Das erzähltechnisch Erstaunliche ist, dass le Fort mit den überschaubaren Textpassagen, welche besagte drei Kirchen betreffen, gleichsam ein Panorama des Katholischen aufspannt: In Santa Maria sopra Minerva wird Eucharistie gefeiert, in der Klosterkirche findet das Chorgebet mit Anbetung statt, in Santi Cosma e Damiano ein Kreuzweg. Das alles verknüpft die Dichterin mit den geistlichen Ständen der katholischen Welt, Priester, Ordensfrauen, Mönchen, und unterlegt es mit dem Gesang des Hymnus „Pange lingua“: „jene selige Melodie … die ich nie anhören könnte ohne mir zu wünschen, Flügel zu haben, um einem unaussprechlichen Geheimnis entgegenzueilen“.
Die berühmt dreistöckige Basilika San Clemente wird in le Forts Text von der dunklen Erfahrung ihrer Unterkirche, die einst Stätte eines Mithraskultes war, dominiert; die fromme, sich aber letztlich verweigernde und zuletzt dämonisch bedrängte Tante Edelgart wird dort in der Dunkelheit von einer Erfahrung ewiger Finsternis und Verzweiflung heimgesucht: „Es scheint, dass diese ungeheure, schwarze Tiefe unmittelbar unter dem Altar, vor dem sie selbst noch eben gebetet hatte, ihr irgendwie zur Anschauung einer unaussprechlich beängstigenden Möglichkeit geworden ist.“
Das Unsichtbare wird über das Sichtbare offenbart
Nachdem die Großmutter und Tante Edelgart verstorben sind, besucht Veronika die Basilika Santa Maria Antiqua auf dem Forum; eine Szene, welche von der für le Fort typischen Gnade der Wiederholung geprägt ist: Schon einmal war Veronika vor einem Streitgespräch zwischen Enzio und ihrer Großmutter hierher geflohen. Wie damals findet sich das Mädchen plötzlich vor dem alten byzantinischen Kreuz: „Dieses Kreuzesbild befand sich in einer tief zurückliegenden Nische, gleichsam eingegraben in den alten, stolzen Berg des Palatin, als bilde es sein innerstes Geheimnis.“ Die Wortwahl bildet auch die Brücke zur Erfahrung der göttlichen Liebe in Sankt Peter. Was Veronika vor dem Kreuz in Santa Maria Antiqua einst verstört hatte, wird ihr nun – wo sie selbst von Tod und Leiden verwundet – zur Rettung. Jetzt kann sie die göttliche Liebe im Geheimnis des Kreuzes zurücklieben: „Es war jene große und ergreifende Stunde, in der die Seele zum erstenmal erkennt, dass die göttliche Liebe nicht nur mit Seligkeit, ja nicht einmal mit Liebe, sondern – sie, die selbst Leiden wurde – auch mit Leiden geliebt sein will…“
In le Forts Roman „Der römische Brunnen“ geht die Offenbarung des Unsichtbaren ganz unmittelbar über in das Sichtbare; Rom erweist sich als der Raum schlechthin, wo das Physische ins Metaphysische verweist. Ein Rom-Roman als Reiseführer, der unvermutete Wege erschließt.
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