Literatur

Robert Musil: Nachdenken über sich selbst im Land der begabten Friseure

Sein Personal besteht aus Archetypen des 20. Jahrhunderts – Robert Musils Reden und Aufsätze zur Politik sind erschienen. Von Urs Buhlmann
Der junge Robert Musil
Foto: IN | Der junge Musil.

Ein Kärntner, ein gelernter Grenzgänger war Robert Musil (1880–1942), dessen Leben in Klagenfurt begann und im Exil, in Genf, endete. Der studierte Maschinenbau-Ingenieur, der in Berlin auch Philosophie und Psychologie belegt hatte, begann nach der Teilnahme am Weltkrieg als österreichischer Offizier und erlittener Invalidität mit dem Schreiben. Eines der ersten Werke, die „Verwirrungen des Zöglings Törleß“, nährte sich aus eigenen Erfahrungen im Militärinternat Eisenstadt und ist ein Meisterwerk der aus der Innenperspektive gestalteten, tiefenpsychologische Erkenntnisse aufnehmenden Erzählung, wie sie der wirren Situation nach dem Krieg entsprach. Es geht um das Erwachsenwerden, um subtilen Sadismus im Internatsleben, um die Unmöglichkeit, Vernunft und Unvernunft voneinander zu trennen, letztlich um das Zwiespältige im Menschen: Das Unbewusste als Wirklichkeit wird zum Schicksal. Bergson und Freud sollten zur selben Zeit versuchen, diese Vorgänge zu entschlüsseln und zu deuten. Für Musil war Törleß die erste der Figuren, die er später als „Möglichkeitsmenschen“ beschreiben wird: „Es schien damals, dass er überhaupt keinen Charakter habe“, nennt er als sein Kennzeichen. Und nahm damit ein wichtiges Motiv seines späteren Romanfragments „Der Mann ohne Eigenschaften“ auf, an dem er anderthalb Jahrzehnte arbeiten sollte und das zu den einflussreichsten Werken des 20. Jahrhunderts gehört (obwohl es auch heute fast unmöglich ist, eine authentische Fassung zu erstellen). Musils Protagonisten, die sich treiben lassen, die keinen Selbststand haben, die „Urlaub von Leben“ nehmen und dessen Probleme zwar ausgreifend analysieren, aber nicht lösen können, sind Archetypen des 20. Jahrhunderts.

Schwer vorstellbar, dass dieser Autor, der in einer Umbruchszeit lebte, keinen Anteil nahm am politischen Leben der Zeit. So lag es nahe, Musils gesammelte Reden und Aufsätze zur Politik herauszugeben, was Martin Bertleff nun im für seine außergewöhnliche Bücher bekannten Karolinger Verlag getan hat. Der Blick Musils auf die Politik des Heimatlandes ist durchaus nüchtern, es ist die Künstlichkeit des Getriebes, die ihm auffällt: „Es gibt wenig Länder, die so leidenschaftlich Politik treiben, und keines, wo Politik bei ähnlicher Leidenschaft so gleichgültig bleibt wie in diesem; Leidenschaft als Vorwand“, schreibt er 1912.

Ein Überschuss an Denkern, Dichtern, Schauspielern

Immer folgt relativ schnell ein Vergleich mit Deutschland, das einerseits Vorbild ist, andererseits Reibebaum. Da scheint sich wenig verändert zu haben bis heute. Vor 100 Jahren stellt Musil fest: „Das Werkzeug Sozialdemokratie ist hier noch nicht hart genug“ – nicht einmal das! Aber auch das Bürgertum dieser beiden deutschsprachigen Länder lässt sich nicht vergleichen, denn „man wird noch immer vom Schicksal nur auf eine persönliche Empfehlung hin zum Österreicher geschaffen, und es bleibt schwer, dem Unehre zu machen. Darum schätzt man die Katastrophen, weil sie die Verantwortung auf sich selbst nehmen, und braucht das Unglück, weil es heftige Gestikulationen erzeugt, hinter denen jeder Mensch erlischt und konventionell wird“. Immer schon konnten die Österreicher gut auf sich selber schimpfen, schätzen es aber andererseits nicht, wenn andere das tun.

Mitten im Ersten Weltkrieg stellt sich Musil in der von ihm in Bozen herausgegebenen „Tiroler Soldaten-Zeitung“ die Frage: „Bin ich ein Österreicher?“ Er meint so fragen zu müssen, denn der staatsrechtliche Aufbau der Doppelmonarchie, die nur in der Person des Kaisers geeint war, bringe es mit sich, dass „ein Bauer in Galizien, ein Schuster in Krain, ein Advokat in Böhmen“ auf die Frage nach seiner Identität eher sagen wird, er sei Pole, Slowene, Deutschböhme oder Tscheche, als „Österreicher“. Womit Musil ein entscheidendes Problem der K.u.K.-Monarchie benannt hat, das nur solange, wie das Kaisertum ungefährdet war, unter den Teppich gekehrt werden konnte. Auch in der Kriegssituation wirke sich die mangelnde Identifizierung der „Kakanier“ mit ihrem komplizierten Reich negativ aus: „Dass das Ausland unter solchen Umständen, auch ohne die Tätigkeit der Irredentisten, an einen nahen Zerfall dieses, von seinen eigenen Bürgern verleugneten Staates glauben musste und sich aus ihm die Beute holen wollte, die ihm passte, ist begreiflich.“ Im gleichen Jahr 1916 verteidigt der Landsturmhauptmann den gefährdeten Staat mit einfachen, klaren Worten. Dieser bestehe „aus allen, die innerhalb seiner geographischen Grenzen wohnen, vom Häusler in einem Gebirgsdorf bis zum Minister und zum Kaiser. Wir alle miteinander bilden den Staat. Wir alle miteinander legen uns bestimmte Pflichten und Gesetze auf, die unser Dasein als Einzelnes und als Volk gewähren und schützen“. Im klein gewordenen „Deutschösterreich“ sahen viele ihr Heil im Anschluss an Deutschland. Musil, der sich nur ein Jahr lang mit dem seinem Vater 1917 verliehenen Adelsprädikat als „Edler von Musil“ schmücken konnte, macht da keine Ausnahme. Es gibt eine ganze Reihe Stellungnahmen, in denen er einen solchen Schritt gegen den Vorwurf eines Ausverkaufs nationaler Interessen verteidigt. Natürlich, Österreich sei ein „begabtes Land, das einen Überschuss an Denkern, Dichtern, Schauspielern, Kellner und Friseuren erzeugt“. Natürlich, „Orient und Okzident vermählen sich in uns, Süden und Norden; eine zauberhafte Vielfalt, eine wunderbare Kreuzung von Rassen und Nationen, ein märchenhaftes Mit- und Ineinander aller Kulturen, das sind wir“. Doch sei auch Deutschland kein Land von Banausen, es habe immerhin Cranach und Grünewald, Leibniz und Goethe hervorgebracht. Nun aber: „Warum es uns trotzdem immer eigentlich ein wenig schlecht ging, kommt, abgesehen von unserer zu großen Bescheidenheit, nur vom Pech. Wir hätten theoretisch mit unserer Völkerdurchdringung der vorbildlichste Staat der Welt sein müssen.“ Theoretisch – tatsächlich aber krachte die Doppelmonarchie so gründlich und so schnell zusammen wie auch in Deutschland die Throne fielen.

Nun schien es Musil ein Gebot der Klugheit, dass sein Heimatland zu Deutschland stoßen sollte, dem es kulturell ohnehin verbunden war. „Auf der leichten österreichischen Verwesung hatte es sich natürlich entzückend gelebt, sodass es begreiflich ist, wenn der ein oder der andere künstlerische Leuchtbazillenträger sich dem Geiste verpflichtet glaubt, im Falle des Anschlusses nach Rumänien auszuwandern.“ Doch sei es eine Tatsache, dass Deutsche als „Eroberer und Kolonisatoren“ vor mehr als 1000 Jahren ins Land gekommen seien, wirkten, „und der Zusammenhang mit Deutschland frischte ständig ihre Kraft auf“.

Es ist wohl typisch österreichisch, diese Mischung aus An- und Abstoßung, das Nebeneinanderliegen von Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühlen, die Erkenntnis, dass es sinnvoll ist, sich an den großen Nachbarn zu halten und der Schauder, es wirklich zu tun. 1938 wurde dieses Dilemma gelöst, von einem Österreicher, der in Braunschweig als Regierungsrat Deutscher geworden war und nun im Triumph in die Heimat zurückkehrte, die ihm einst zu eng geworden war. Da lebte Musil, dessen Bücher in Deutschland bereits 1933 und nun auch in Österreich verboten waren, schon in der Schweiz.

Auch andere Facetten des politischen Denkers Musil scheinen in dem Sammelband auf: sein Eintreten für Schriftsteller und Künstler, für die er im Vorsitz des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich“, gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal focht, sein Bekenntnis zu den jüdischen Mitmenschen und Intellektuellen, deren erzwungener Fortgang er als Katastrophe empfand, die klare Erkenntnis, dass 1914 etwas unwiderruflich zu Ende gegangen ist und nun eine neue „kollektivistische“ Epoche begonnen habe, in der der Einzelne wenig zähle. Und am Ende die resignative Einsicht, dass er kein Talent zur Politik habe, dass man freilich auch die Welt kaum „durch Beeinflussung ihres Geistes bessern kann; die Motoren des Geschehens sind von gröberer Natur“.

„Zum politischen Werkzeug und Parteigängertum war er nicht zu brauchen“, schreibt Herausgeber Bertleff im Nachwort. Doch hat Robert Musil, dieser scharfe Analytiker unter den Schriftstellern, dem die Religion keinen Trost spenden konnte und dem es aufgegeben war, in einer Verfallszeit zu leben, versucht, auch die politischen Zeitläufe zu deuten. Der Band versammelt die wichtigsten, zum Teil schwer zugänglichen Beiträge dieser Diagnostik aus zehn Jahren und ist ein willkommener Beitrag zur Musil-Exegese.

Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom – Reden und Aufsätze zur Politik.
Hrsg. von Martin Bertleff, Karolinger Verlag, Wien/Leipzig 2014,
206 Seiten, ISBN 978-3-85418-158-3, EUR 23,–

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