Rainer Maria Rilke war der Dichter der Gottesgeburt im Herzen. Deshalb feierte er die Heilige Nacht als stille Nacht. Alle Jahre wieder schrieb er seiner Mutter einen innigen Brief, den sie in der gemeinsamen „Sechsuhrstunde“ las. So hielt es auch der Sohn mit ihrer Weihnachtspost. Diese Stunde der Anbetung, der Freude und Dankbarkeit war dem katholischen Dichter ein Nachhall eines Rituals seiner Kindheit, da er neben seiner Mutter vor dem Weihnachtsbaum betend kniete. An Weihnachten trug das Einzelkind ein weißes Gewand. Sophia Rilke hatte es eigenhändig mit Brokat verziert.
Das lockige Haar ihres Kindes schmückte eine rosafarbene Schleife. Auf dem zarten Rücken war ein Flügelpaar aus weißer Gänsedaune befestigt. Der Junge liebte Mädchenkleider und trug sie zur Freude seiner Mutter gelegentlich sogar auf der Straße. In einem seiner Weihnachtsbriefe erinnert er sich: „Kommt doch alles Lichte meiner Kindheit in jenen glücklichen Abenden zusammen, da man, in dem schönen Kleide, gleichsam den Engeln verschwistert war und sich zwischen ihnen und der übrigen Welt auf einer schwebenden Insel erhielt, zu der einen Leichtigkeit des eigenen Herzens hinaufgehoben hatte.“
„Vielleicht ist die Renovierung der Kapelle nicht nur ein Zeichen des Dankes
für das gelebte Leben,
sondern eine Opfergabe, verbunden mit der Bitte um Genesung“
Alleinsein ist Einssein. Sophia Rilke hat ihr Siebenmonatskind am Tag der unbefleckten Empfängnis der Muttergottes geweiht. Rilke hat diesen Akt der Weihe ernst genommen. Seine Weihnachtsbriefe sind Meditation, Gebet, Erbauung und Lebenshilfe. Tief verwurzelt im katholischen Glauben, findet Sophia Rilke dennoch nicht immer Kraft zu einem souveränen Umgang mit ihrer übersensiblen Natur. Wie ein Seelsorger spürt der Sohn dem Geheimnis ihrer Sehnsucht nach und findet tröstende Worte:
„Und vielleicht ist der der Glücklichste, der so große Wünsche hat, dass er gar nicht auf Erfüllung wartet, der über dem Wünschen das Wünschen meinen und lieben lernt. Dies ist ja auch der Zustand des größten Gebets, nicht um etwas zu bitten, sondern ganz groß in der unendlichen Verfassung des Bittens zu sein. Wer etwas von Gott erwartet, tut ihm unrecht, denn Gott ist der, von dem wir unaufhörlich alles erwarten und unser wahres Dasein Gott gegenüber ist das des Wartenden, da wir doch nie imstande sind, Alles zu empfangen.“
Die Kindheit prägt Rilkes Vorfreude auf Weihnachten
Unter allen Sechsuhrstunden nimmt die Weihnacht des Jahres 1923 eine besondere Rolle ein. Die Engel-Dichtung der „Duineser Elegien“ war erschienen. Rilke hatte ein Exemplar mit einer Widmung für seine Mutter versehen. Sophia Rilke verbringt Weihnachten 1923 wie so oft in einem Sanatorium.
Der beiliegende Brief schlägt einen Bogen von den Motiven der Dichtung zu den grundlegenden Erfahrungen der Kindheit. Rilke spricht von der Vorfreude auf das Weihnachtsfest, die nun in den Elegien zu einer Lebenshaltung froher Erwartung des Kommenden gesteigert sei. Er spricht von der Überwindung der Grenzen zwischen Leben und Tod und ihrer Verwandlung im großen Geheimnis des Rühmens.
Tiefe Verbundenheit mit der Mutter
In seinem Refugium, einem alten Turm in Muzot/Wallis, verbringt Rilke den Weihnachtsabend allein. Das stille Gedenken in der Sechsuhrstunde vereint ihn mit seiner Mutter. „Meine liebe gut Mama, hast Du die treue stille Vereinigung unserer Sechs-Uhr-Stunde recht innig gefühlt?“, fragt der Sohn in seinem Brief vom zweiten Weihnachtsfeiertag 1923.
Wenige Schritte oberhalb von Muzot befindet sich eine baufällige Kapelle. Sie ist der heiligen Anna geweiht. Ein eisernes Gitter verwehrt den Zugang. Rilke besitzt den Schlüssel zum Heiligtum. Seit Jahren hat kein Priester mehr diesen Kraftort betreten und die heilige Messe gefeiert. An Weihnachten schmückt Rilke die Kapelle der heiligen Anna mit Christrosen und sorgt dafür, dass Kerzen während der gesamten Heiligen Nacht leuchten. Der Mutter berichtet er, wie er in der Heiligen Nacht um neun Uhr allein in dieser Kapelle gebetet hat: „Dort verbrachte ich eine Stunde feierlicher Sammlung, aller Lieben gedenkend. Zu dieser Stunde wirst Du, liebe Mama, wohl schon zu Bett gewesen sein: Auch zu Dir, kannst Du Dir vorstellen, pilgerten nochmals meine Gedanken, von diesem lieben ländlichen Altar aus, dessen Segen ich für mich ganz allein habe, in unserer verschneiten Einsamkeit.“
Er will ein Heiligtum renovieren
Zu seinem 50. Geburtstag will Rilke ein sichtbares Zeichen seiner Dankbarkeit setzten, einen Ort der Erinnerung stiften. Was bietet sich mehr an, als das kleine Heiligtum der Anna von Muzot? Die Renovierung der Annenkapelle ist ihm so wichtig, dass er ganz im Gegensatz zu seiner Gewohnheit die Kosten selbst übernimmt.
Den Barbaratag 1925, seinen 50. Geburtstag, verbringt Rilke allein in seinem Turm. Berge von Briefen und Glückwunschkarten türmen sich um ihn herum. Draußen schlafen die Rosenbeete, sorgfältig in Tannenreisig gehüllt, bei Temperaturen um minus 16 Grad. Rilke liest nur wenige Briefe. Dann wandert er durch das tief verschneite Land. Vier Tage später feiert er mit den Wallisern das Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens. Der 8. Dezember ist auch sein Tauftag. An diesem Marientag bedankt er sich bei seiner Mutter für die Geburtstagsgrüße und berichtet ihr von St. Anne de Muzot. Bevor er seinen Brief zur Post bringen lässt, hält er „ihn noch ins Glockengeläut hinaus, damit er ein paar dieser Schwingungen in seinen Papieratomen zu Dir hinübernimmt“. Dann begibt sich Rilke in die Klinik Val-Mont am Genfer See. Seinen gesundheitlichen Zustand verschweigt er gegenüber der Mutter. Vielleicht ist die Renovierung der Kapelle nicht nur ein Zeichen des Dankes für das gelebte Leben, sondern eine Opfergabe, verbunden mit der Bitte um Genesung. Rilke ist seit Jahren ernsthaft krank. Die Symptome lassen sich nicht verdrängen: Unwohlsein, Ermüdung, Gewichtsverlust, Schwellung der Lymphknoten, Ausschläge, Infektionen, Entzündung der Mundschleimhaut und Darmblutungen.
In den Jubel der Weihnachtslieder einstimmen
In den kalten Wintermonaten mussten die Renovierungsarbeiten an der Kapelle eingestellt werden. Nun, im Frühjahr, berichtet Rilke seiner Mutter von raschen Fortschritten und bittet sie um ihre Unterstützung der Arbeiten durch ihr Gebet. Ostern solle die erste Messe gefeiert werden. „Sende ein Gebet zu St. Anne de Muzot!“ Ostern 1926 kommt. Die Bauarbeiten sind jedoch noch nicht vollendet. Inzwischen hat auch Sophia Rilke Geld gespendet. Rilke plant die erste Messe in St. Anne de Muzot zum 15. Mai, dem Namenstag seiner Mutter. Doch auch dieser Termin verstreicht. Ohnehin ist Rilke selten vor Ort. Die meiste Zeit verbringt er in den Kliniken von Val-Mont oder Bad Ragaz.
Im Juli 1926 kann er seiner Mutter den Abschluss der Renovierungsarbeiten melden. Doch fehlen Details wie neue Altardecken, auf die es Rilke sehr ankommt. Die Wiedereinweihung seiner Stiftung wird er nicht mehr erleben. In seinem letzten Weihnachtsbrief erinnert er noch einmal an die große Freude, da er als Engel verkleidet neben der Mutter kniete. Loben und Danken sind ihm seither zur Mitte des Glaubens geworden, als er in den Jubel der Lieder einstimmte, „in jenen Jubel, der mir die Engel geschenkt hat, deren Bewusstsein, weit entfernt mir verloren zu gehen, auf allen Stufen des Lebens mit mir gewachsen ist! Wir knien zu gleicher Zeit, in der gleichen Erinnerung, hineingerückt, jeder von seiner Seite her, in das Licht der gleichen Christ-Nachts-Gnade: und so knien wir nebeneinander. Sei innig umarmt.“
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