Philosophie

Mutig wurde er ein kraftvoller Erneuerer des Denkens

Endliche Vernunft öffnet den Blick auf Gott: Richard Schaeffler über die Perspektiven der Transzendentalphilosophie.
Richard Schäffler bei seinem letzten öffentlichen Vortrag 2017
Foto: Stift Heiligenkreuz/E. Fürst | Richard Schaeffler bei seinem letzten öffentlichen Vortrag 2017 im Rahmen einer vom Verfasser zum 90. Geburtstag Schaefflers veranstalteten Tagung „Gott denken“ in der Hochschule Heiligenkreuz.

Seine letzten Lebensjahre waren nicht das, was man ein „beschauliches Alter“ nennt, doch waren ihm seine zahlreichen gesundheitlichen Beschwerden stets Ansporn zu neuen wissenschaftlichen Anstrengungen. Er wollte am Ende vieler Jahrzehnte, die er für Forschung und Lehre gelebt hatte, eine Art von Resumée hinterlassen, das beseelt war von dem Bemühen, den Jüngeren mitzuteilen, worauf es im Leben ankommt. Dieser Impetus lag seiner ganzen Philosophie zugrunde: Sie hatte ihren Platz mitten im Leben und wollte helfen, Gott und Welt besser zu verstehen.

Am 24. Februar 2019 verstarb Richard Schaeffler in seiner Geburtsstadt München. Geboren am 20. Dezember 1926, besuchte er zunächst das Benediktinergymnasium in Ettal und nach dessen Schließung durch die Nationalsozialisten das Theresien Gymnasium München. 1942 wurde er als „Halbjude“ – seine Mutter Hannah, geborene Fromm, war Jüdin – der Schule verwiesen, begann anschließend eine Lehre als Großhandels-Drogist und war nach seiner Verhaftung durch die Gestapo während der letzten Kriegsmonate, von November 1944 bis April 1945, Häftling im Sonderarbeitslager Schelditz bei Rositz in Thüringen. Nach Kriegsende begann er das Studium der Philosophie, der Katholischen Theologie und der Psychologie, zunächst – noch ohne Abitur – als Gasthörer an der Hochschule für Philosophie in Pullach; seine Lehrer dort waren unter anderem Walter Brugger und Joseph de Vries; anschließend studierte er von 1945 bis 1953 in Tübingen und München, unter anderem bei Gerhard Krüger, Eduard Spranger und Wilhelm Weischedel. Die Promotion erfolgte 1952 mit einer Arbeit über Karl Jaspers.

„Je deutlicher der Mensch seine Abhängigkeit
von den geschichtlichen Bedingungen seines Lebens erfährt,
desto fragwürdiger erscheint ihm der Anspruch, er solle und könne eine Wahrheit erfassen,
die von allem Wechsel in der Zeit unbetroffen bleibt“

Von 1968 bis 1989 war er Inhaber des Lehrstuhls für Philosophisch-Theologische Grenzfragen an der Ruhr-Universität Bochum, danach Gastprofessor an der Hochschule für Philosophie München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählten die Geschichtsphilosophie, die Religionsphilosophie, die Wissenschaftstheorie der Theologie, die Transzendentalphilosophie und der Jüdisch-Christliche Dialog. Gegen Ende seines Lebens beschäftigten ihn – den Verfasser zahlreicher Bücher – besonders die Weiterentwicklung der transzendentalen Methode in Philosophie und Theologie, die Analyse der religiösen Sprache sowie die jüdische Religionsphilosophie des 19. und des 20. Jahrhunderts.

In einem unveröffentlichten Manuskript „Was mir wichtig bleibt“ von 2017 schreibt Schaeffler: Schon in meiner Studentenzeit wurde mir klar, „dass die Frage, wie Wahrheit und Geschichte sich zueinander verhalten, zu den dringendsten philosophischen Fragen der Gegenwart gehört. Denn je deutlicher der Mensch seine Abhängigkeit von den geschichtlichen Bedingungen seines Lebens erfährt, desto fragwürdiger erscheint ihm der Anspruch, er solle und könne eine Wahrheit erfassen, die von allem Wechsel in der Zeit unbetroffen bleibt. Wenn es zum Begriff der Wahrheit gehört, dass ihr Anspruch auf Anerkennung, wenn er sich einmal als gerechtfertigt erwiesen hat, zu allen Zeiten gültig ist – semel verum, semper verum –, dann scheint für den Menschen, der seine radikale Geschichtlichkeit erfahren hat, ,Wahrheit‘ ein utopischer Begriff zu sein.“

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An der überzeitlichen Wahrheit teilhaben

Die Frage nach der Wahrheit kann man wohl als das große Lebensthema Schaefflers bezeichnen: Wie lässt sich an einem durch alle Zeit gleichbleibenden Gültigkeitsanspruch von Wahrheit festhalten, wo doch alles, auch unser Erkennen, dem geschichtlichen Werden und Vergehen unterworfen ist, also immer nur als filia temporis in Erscheinung tritt? Dass Schaeffler sich diese Frage früh zu eigen machte, kann nicht weiter verwundern, denn Martin Heidegger hatte sie 1927 zur Leitfrage für das ganze 20. Jahrhundert gemacht.

Schaeffler rang mit dieser Frage zeit seines Lebens. Um sie zu beantworten, bedarf es einer gründlichen Vermessung der Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Vernunft. Einen Wegweiser fand er in der Philosophie Kants. Unsere Vernunft, so schrieb Schaeffler sinngemäß, ist sehr schwach, aber dennoch nicht zu schwach, um nicht auch teilhaben zu können an der immer überzeitlichen Wahrheit. Die jedoch, man mag sich ihrer noch so sicher wähnen, ist nie Besitz, denn sie ist ausnahmslos weit größer als das, was wir jeweils in Raum und Zeit – mithin immer nur perspektivisch – von ihr erfassen können. Ist Wahrheit also doch nicht unveränderlich, sondern geschichtlich? Ja und Nein, lautet Schaefflers Antwort: Sie verändert sich insofern, als sie immer wieder neue Aspekte zu erkennen gibt; aber sie bleibt unveränderlich insofern, als die neuen Aspekte, derer wir teilhaftig werden, die alten Einsichten nicht außer Kraft setzen.

Man besitzt Wahrheit nie

Wahrheit baut sich im Gang der Vernunft durch die Zeitläufte auf, indem sie immer neue Einblicke gewährt. Sie will gesucht und gefunden werden, indem sich der Mensch in seinem Erkennen am „eigenständigen Selbststand“ der Dinge abarbeitet. Die Dinge: Das sind Objekte, die sich dem Menschen entgegenwerfen, wie es der Bedeutung des lateinischen Wortes ob-icere entspricht; sie stellen sich dem Menschen in den Weg und lassen sich nicht leichthin mit dem Hinweis, alles menschliche Erkennen sei doch bloß subjektiv, zur Seite räumen. Stolpernd werden wir der Dinge gewahr, die sich unserem Erkennen in den Weg stellen. In diesem Sinne ist Schaefflers Erkenntnislehre auch ein Gegenentwurf zum zeitgenössischen Radikalen Konstruktivismus.

Erkennen bestimmt Schaeffler als „verantwortendes Gestalten“: Verantwortet werden muss Erkenntnis gegenüber dem Anspruch der ob-iectiones, gestaltet werden muss sie im Blick auf ihre Einordnung in die Zusammenhänge unseres Verstehens. Dieser Vorgang ist nicht gefeit vor dem Irrtum. Gerade deshalb lautet die ständig wiederholte, eindringliche Mahnung: veritas semper maior. Besitzen kann man Wahrheit nie: Sie ist immer größer als unser Vermögen, sie in der Endlichkeit zu erfassen.

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Seine Philosophie spiegelte sich im Leben wider

Solcherart Erkenntnislehre ist begründend für die Anthropologie. Was der Mensch ist, sein kann und sein soll, beantwortet sich wesentlich über die Erkenntnislehre, weil die Vernunft das „Specificum humanum“ des Menschlichen ist. Hier greift Schaeffler auf Kant zurück, der die Frage nach dem Menschen als den krönenden Abschluss der vorangehenden drei Leitfragen der Philosophie – den Möglichkeiten des Wissens, des Tuns und der Hoffnung – begriff.

Schaeffler fügt den Einsichten Kants eine eigene, weiterführende hinzu: Wenn sich Wahrheit in immer neuen, alte Einsichten ergänzenden Sichtweisen zu erkennen gibt, dann darf der Mensch sich diesem Fortschreiten nicht blind verschließen; er muss bereit sein zu eigener – Schaeffler sagt ausdrücklich: radikalen – Umgestaltung, so wie es Paulus so nachdrücklich im Römerbrief 12.2, fordert: „Lasset euch umgestalten zur Neuheit des Denkens, damit ihr urteilsfähig werdet.“ Diese Bereitschaft des Menschen zur jederzeitigen Umgestaltung – metamorphosis – gehört zu jenen Schlussfolgerungen, die Schaeffler aus einer gründlichen Beschäftigung mit der kantischen Erkenntnislehre zieht, um auch auf diese Weise eine Brücke zur Anthropologie zu schlagen. Eine solche Einstellung erfordert den Mut zur Vorläufigkeit.

Die Endlichkeit der Vernunft

In seiner letzten Schrift, der im Sommer 2018, kurz vor seinem Tod, verfassten Philosophischen Anthropologie (Wiesbaden 2019), schreibt Schaeffler: Aus der „zweifachen Selbstgefährdung kann die endliche Vernunft sich nur dadurch befreien, dass sie den Anspruch, den die Erscheinungen an sie richten, als bloße, aber zugleich als wirkliche Erscheinungsgestalt des Auftrags versteht, den Gott ihr anvertraut. An diesem ihr anvertrauten Auftrag kann die menschliche Vernunft sich ihrerseits in einem antwortenden Vertrauen hingeben, weil sie sicher sein darf, sich selbst in dieser Selbsthingabe nicht zu verlieren, sondern neu zu gewinnen.“ Die Annahme Gottes ist ein unhintergehbares Erfordernis zur Rettung der Vernunft. Der Einfall Gottes ins Denken geschieht dort, wo ein Mensch feststellt, dass er weder seiner sinnlichen Erfahrung noch seiner intelligiblen Einsicht trauen kann. Folglich kommt dem Gottespostulat eine unverzichtbare hermeneutische Bedeutung zu: Die Grenzerfahrung unserer Vernunft lässt sich sinnerfüllt nur im Licht dieses Postulates deuten – und aushalten.

Schaefflers wissenschaftliches Lebenswerk mündet in eine kraftvolle Erneuerung der Transzendentalphilosophie. Für dieses Unterfangen war ihm das eigene Leben der Prüfstein seines Denkens. Philosophie – wie übrigens auch Religion – waren für ihn nicht nur Denk-, sondern ebenso Lebensformen. Ihnen versuchte er eindrucksvoll bis zu seinem Tod treu zu bleiben. In diesem Mühen und dessen Gelingen zeigt sich eine besondere Signatur seines Lebens.


Der Autor ist Professor für Philosophie an der Hochschule Heiligenkreuz/Wien und leitet dort die von ihm gegründete Forschungsstelle Metaphysik.

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