Menscheitsgeschichte

Religion beeinflusst den Blick auf Geschichte und Glauben der Völker

Lange Zeit wurde Christianisierung als erzwungene Kulturaufgabe indigener Völker interpretiert. Doch ein aufgeklärter Blick auf das Geschehen zeigt, dass viele indigene Völker „ihren Glauben“ gerne gegen das Christentum tauschten - ein Gespräch.
Weihnachten in Peru
Foto: Uriel Montúfar (dpa) | Für uns Europäer mag es ein ungewöhnlicher Anblick sein: Junge Frauen stellen beim Ninucha Fest im peruanischen Hochland Jesusfiguren in Krippen, die mit Blumen, Obst und Kartoffeln geschmückt sind.

Wie sind Sie zur Völkerkunde gekommen, was hat Sie daran fasziniert?

Das ist im Wesentlichen durch das Reisen passiert, da ich seit der Schulzeit viel und gerne gereist bin und mich für die Kulturen interessiert habe und dann eigentlich die Passion zum Beruf geworden ist.

Hat sich erfüllt, was Sie sich erhofft haben?

Absolut. Ich würde sagen, ich habe den besten Job der Welt. Es ist ein großes Privileg, so eine Sammlung zu hüten, Zugang zu Dingen zu haben, Menschen aus aller Welt zu treffen, das ist ohne Übertreibungen ein wahr gewordener Traum.

Was sind die Hauptthemen der Völkerkunde heute?

Ich würde sagen die Veränderung der Kulturen, die Globalisierung, die Migration. Ganz wesentlich sind die Beziehungen zwischen den Ländern, den Menschen, den Kulturen, alles, was uns verbindet.

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Was hat sich in der Ethnologie in den letzten 50 Jahren verändert?

In der Ethnologie war zu dieser Zeit der Anspruch noch sehr stark, Kulturen in ihrem Urzustand vor der Christianisierung, vor der Industrialisierung festzuhalten, eine wie auch immer geartete Ursprünglichkeit zu dokumentieren, die Urheimat von Völkern zu finden, zu fragen wer hat etwas zum ersten Mal erfunden. Dabei wurde übersehen, dass vor allem Kunst, Kreativität, Kultur durch die Begegnung, durch Wanderungen entstehen. Der große Unterschied ist, dass wir heute nicht nur die Kultur isoliert betrachten, sondern ein Netzwerk von Beziehungen sehen. Die Ethnologie ist sehr viel historischer geworden. Wir schreiben heute nicht mehr wie vor 60 Jahren Texte in der Gegenwartsform, sondern sehen: da hat es Veränderungen gegeben. Ein Exponat in einem Museum ist heute für uns nicht mehr zeitlos, sondern vielmehr ein Zeitzeugnis, das von einer ganz bestimmten Epoche erzählt.

Wie stehen Sie zum Thema Postkolonialismus?

Das ist ein weites Feld.  Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass die Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit eines der zentralen Themen für ethnologische Museen ist, auch dass Objekte die nachweislich durch Raub oder Mord in unseren Bestand kamen es erforderlich machen, die Herkunftsgemeinschaften zu kontaktieren und über die zukünftige Nutzung dieser Stücke (einschließlich der Option von Rückgaben) vorbehaltlos zu diskutieren. Ebenso sollten sich unsere Museen auch auf die Gegenwart beziehen und heutige Unrechtssituationen, Ausbeutungsverhältnisse etc. nicht verschweigen.  Gleichwohl darf der Sinn eines ethnologischen Museums nicht auf eine bloße Abrechnung mit der eigenen Geschichte reduziert werden. Nach wie vor besteht ein großes Bedürfnis und eine große Notwendigkeit für eine Vermittlung von Wissen über Kulturen, der wir ebenfalls Rechnung tragen müssen.

„Religion ist in den indigenen Kulturen einfach eine stärkere Kraftquelle,
aus der die Menschen schöpfen können und das haben wir hier weniger.
Religion ist für uns mehr im Begriff des Kulturchristen definiert,
eine Form der Traditionspflege“

Welche Rolle spielt Spiritualität in der Völkerkunde?

Eine große, weil wir natürlich religiös sensible Objekte hüten und weil in unserer Ausstellungsarbeit bei der Erforschung von problematischen Objekten oder bei Rückgaben die Frage, was religiös bedeutsam ist, sehr wichtig ist. Und es ist der große Unterschied zwischen den Kulturen, mit denen wir uns auseinandersetzen und uns selbst, dass wir doch in einer sehr säkularisierten Welt leben und als Wissenschaftler unbedingt ernst nehmen müssen, dass andere Menschen in Dingen, die wir nur als leblose Objekte wahrnehmen, einfach lebendige Wesenheiten, Götter, Geister, beseelte Dinge sehen.

Was bedeutet das konkret? Können Sie das an Beispielen verdeutlichen?

Das bedeutet konkret, dass wir Objekte mit einem besonderen Respekt behandeln, wenn wir wissen, dass es in den Kulturen auch so ist. Dass wir erforschen müssen, ob Dinge heute auch noch für diese Kulturen irgendwie heikel, heilig, sensibel sind. Dass wir versuchen, mit diesen Kulturen in Kontakt zu treten und dass wir uns in unseren Ausstellungen auch limitieren. Dass wir nicht jedes Exponat zeigen, sondern sagen: wenn wir religiöse Gefühle verletzen, dann stellen wir dieses Stück nicht aus.

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Was würde sich verändern, wenn die Museen hierzulande mit den Relikten unserer eigenen spirituellen Geschichte genau so umgehen würden?

Das wäre ein sehr spannender Prozess, weil ich denke, wir würden uns sehr viel mehr bewusst werden, wie spirituell wir selber in der Vergangenheit gewesen sind. Ich glaube viel Religiosität, die uns verloren gegangen ist, würde wieder sichtbar werden. Dieser Gedanke, dass ich den Ort der Kirche brauche, um meine Spiritualität auszuleben, ist ja sehr festgesetzt in unserem Denken. Aber ich glaube, wenn wir uns das mittelalterliche Lübeck angucken, dann war Religion allgegenwärtig. Und das sehe ich ein Stückweit auch als Verlust an, dass wir heute Religion so reduziert betrachten.

Wie ist  Ihre Sicht als Ethnologe: Wie leben die indigenen Kulturen Spiritualität und wie leben wir sie?

Das ist natürlich von Kultur zu Kultur extrem unterschiedlich, aber ich glaube schon, dass man auch hier sagen kann, dass in vielen traditionellen Kulturen nennen wir es mal einfach Religion mehr Teil des Alltags ist, dass auch unmittelbar persönliche Bedürfnisse viel stärker durch Religion gestillt werden, Antworten gegeben werden, wo wir hier eher die Wissenschaft bemühen oder wo wir ganz oft sagen, auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Religion ist in den indigenen Kulturen einfach eine stärkere Kraftquelle, aus der die Menschen schöpfen können und das haben wir hier weniger. Religion ist für uns mehr im Begriff des Kulturchristen definiert, eine Form der Traditionspflege. Vielleicht auch noch der Gedanke, das ist für uns als Museumsmenschen auch ganz prägnant: Wir kennen die Symbole gar nicht mehr. Wenn wir heute vor einem Altar, einem Grabstein stehen, sagen uns diese Dinge, die Menschen vor hundert, vor fünfhundert Jahren ganz leicht verstehen konnten, nichts mehr. 

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Ist das nicht eine Frage der Kommunikation? Es gibt doch noch Menschen, die diese Symbole kennen und aus ihnen leben, auch wenn es deutlich weniger sind.

Ich habe Kurse an der Uni gegeben, da gab es 25jährige Studenten, die den Begriff Kanzel noch nicht gehört haben. Sie sagten dann: Wie heißt das Teil da vorne. Ich will das gar nicht über einen Kamm scheren, aber ich würde schon sagen, es gibt einen Wissensverlust in unserer Gesellschaft, was Religion angeht.

Wir sind in einer nachchristlichen Zeit angekommen

Ja. Ich frage mich aber, ob es nicht irgendwann eine Rebellion gibt, ob Jugendliche nicht sagen, um mich von meinen Eltern abzugrenzen, wende ich mich wieder der Religion zu.

Sind die Verfallserscheinungen, die wir derzeit, auch im Rahmen des synodalen Weges beobachten, eine Folge der Verfehlten Reform der Liturgie im Zuge des Zweiten vatikanischen Konzils?

Heute sehen viele Menschen Kirche nur noch als eine soziale Institution. Aber das ist nicht alles. Ich erlebe durch meine Reisen immer diese Überwältigung, wenn man an einem orthodoxen Gottesdienst teilnimmt: Es ist der Ritus, das intensive Erleben. Das fehlt im Protestantismus. Da ist uns erheblich etwas abhanden gekommen. Ich glaube, dass der Mensch an sich ein spirituelles Grundbedürfnis hat, was da einfach nicht erfüllt wird.

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Wie reagieren Menschen aus indigenen Kulturen, wenn sie in einem Museum Objekte ihres Glaubens dort ausgestellt sehen?

Teilweise mit Ehrfurcht vor den Dingen, teilweise mit einem großen Interesse, weil sie das Gefühl haben, sie könnten hier etwas von ihren Ahnen überliefertes wiederentdecken, teilweise auch mit Sorge, ob die Dinge hier adäquat aufbewahrt und präsentiert werden, vor allem aber mit Neugier.

Wie würden Menschen aus indigenen Kulturen Gegenstände unserer Spiritualität wie beispielsweise eine Monstranz oder eine Reliquie behandeln?

Sie würden anerkennen, dass es machtvolle Dinge sind, würden sie mit Respekt behandeln, würden aber auch sagen: das ist nicht unser Kompetenzbereich. So wie viele Gegenstände von Schamanen auf eine Person zugeschnitten sind und nur von einem Eingeweihten oder einer ganz bestimmten Person genutzt werden dürfen, würde man das wahrscheinlich nicht religiös nutzen wollen, sondern würde es als etwas Mächtiges sehen, dass man mit Respekt zu behandeln hat.

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Unterscheidet sich der Umgang von Ethnologen mit Exponaten indigenen Völker in katholischen Länden von dem in protestantischen?

Da würde ich definitiv ja sagen, weil viele Konzepte im Katholizismus existieren, die auch in indigenen Kulturen eine Rolle spielen. der Gedanke der Reliquien zum Beispiel, dass Dinge machtvoll sein können, die Hinterlassenschaften von großen Persönlichkeiten sind. Die Idee der Heiligen im Katholizismus, die eine Mittlerfunktion zwischen Gott und den Menschen haben, dass es etablierte Rituale und feste Gebete gibt, all das was im Protestantismus abhanden gekommen ist. Ich beobachte aber auch, dass viele Menschen, die heutzutage katholisch sozialisiert wurden, religionskritisch sind, weil sie persönlich negative Erfahrungen mit Missbrauch oder den repressiven Seiten der Kirche gemacht haben. Dies betrifft speziell den Gedanken der Mission, der von den meisten Ethnologen sehr kritisch betrachtet wird.

Das trifft auch innerkirchlich zu. Viele sehen Mission nicht als begeistertes Teilen des Glaubens, sondern als gewaltsames Überstülpen eigener Vorstellungen.

Genau. Und dann ist da sofort die Idee, dass, wenn jemand außerhalb Europas Christ ist, dass ihm das irgendwo in der Historie aufgezwungen wurde und dass es dann nicht seine authentische Religion ist. Ein Afrikaner hat dann aus europäischer Sicht gar nicht das Recht, Christ zu sein, weil das nicht seine Tradition wäre. Und das ist natürlich sehr schwierig, weil wir als Ethnologen ja jede Kultur ernst nehmen wollen. Und wer sich als Christ empfindet, darf von uns nicht geringschätzt werden. Aber die Forschung neigt nach wie vor dazu, das Vorchristliche zu suchen. Dabei finde ich gerade die Vielfalt des Christentums in der Welt spannend.

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Wie sieht die Quellenlage bei den Zeugnissen des Übergangs von den paganen zur christlichen Kultur aus?

Da gibt es leider viel zu wenig. Was die materiellen Zeugnisse angeht, ist es eher ein Ersetzungsprozess, in dem christliche Objekte die vorchristlichen ersetzen und Gemeinschaften sich bewusst von alten Götterbildern trennen, um ihre Zugehörigkeit zum neuen Glauben publik zu machen. Dass eine eigene christliche Tradition in der Kunst des Landes entsteht, ist leider seltener der Fall, als man sich wünschen würde.

Das bedeutet, dass die Aneignung nicht funktioniert hat.

Genau. Das, was wir Inkulturation nennen, ist häufig einfach nicht vorhanden.

Wie sieht es mit der Umdeutung der Geisterwelt aus?

Da gibt es eine Reihe von Phänomenen. Das ist ja etwas, das von der Kirche seit der Spätantike auch verfolgt wurde, dass es päpstliche Erlasse gab, Kirchen auf alten Heiligtümern zu errichten. Und das war nicht immer nur, wie es unterstellt wird, ein Versuch, alte Religionen zu unterdrücken, sondern ein ganz pragmatischer Gedanke, den Menschen diesen Übergang zu erleichtern. Ich selbst habe Feldforschungen in Guatemala gemacht, wo Leute gesagt haben: Ich bete in dieser Kirche in dem Bewusstsein, dass hier schon vor Ankunft der Europäer ein Tempel gestanden hat. Und viele Menschen sehen einfach dann die Kompatibilität und sagen: Früher hatten wir den Regengott und heute beten wir zu Petrus. Die Maya sehen sich sogar als wahre Christen, weil sie ihren christlichen Glauben in der Kontinuität mit ihren vorherigen Vorstellungen leben. Sie sagen wir Europäer, die wir unsere vorchristlichen Wurzeln nicht integrieren, hätten einen unvollständigen Glauben.

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Der Aspekt der Erinnerung an die Ahnen ist in unserer Kultur ja genau so verschwunden wie die Heiligenverehrung

Ja. In Guatemala, wo ich geforscht habe, hat das Zweite Vatikanum grundsätzliche Veränderungen bewirkt. Um die junge Generation wieder an den Glauben heranzuführen, wurden Katecheten ausgebildet. Das ging so weit, dass alteingesessene Katholiken, aufgefordert wurden, ihre christlichen Heiligenbilder zu verbrennen, weil das als etwas Heidnisches angesehen wurde.

Und das ist eine protestantische Sicht

Ja. Andererseits gibt es das Phänomen des Heiligen Geistes, mit dem die Menschen in Afrika und Lateinamerika weitaus mehr anfangen können, als wir. 

Weil sie ihn erleben

Genau. Das ist diese gelebte Spiritualität, etwas, dass in unserer säkularisierten Gesellschaft einfach keinen Platz mehr hat. Wir finden das befremdlich. Ethnologen, die heute in so eine Messe in Afrika gehen, theoretisieren dann, dass das wie ein uralter Schamanismus ist, der unter dem Deckmantel des Christentums weiterlebt und begreifen gar nicht, dass der Heiligen Geist sehr Wohl auch ein Teil unserer eigenen christlichen Tradition ist. 


Dr. Lars Frühsorge ist Ethnologe und seit 2018 Leiter der Lübecker Völkerkundesammlung.
Er studierte an der Universität Hamburg und ist dort sowie in Heidelberg seit 2005 als Dozent tätig.

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