Mystische Vereinigung

Réginald Garrigou-Lagrange: Knieende Theologie

Die spirituelle Theologie des Franzosen Réginald Garrigou-Lagrange wollte zur Vervollkommnung des Menschen mit Gott führen.
Réginald Garrigou-Lagrange, Theologe
Foto: Lex.mercurio

Laut einem auch unter Christen verbreiteten Vorurteil ist Theologie etwas völlig anderes als Spiritualität: Die Theologie sei eine abstrakte, der Philosophie verwandte Wissenschaft; mit „Spiritualität“ hingegen sei das lebendige religiöse Innenleben eines Menschen gemeint. Nirgends, so das Vorurteil weiter, werde der Unterschied zwischen Theologie und Spiritualität deutlicher als im Gegensatz zwischen der trockenen, am Gängelband der Vernunft geführten Scholastik einerseits und der die Grenzen des Rationalen sprengenden Mystik andererseits.

„Auf der Erde gibt es nur eine Notwendigkeit: Gott zu lieben,
und in meinem Zustand kann ich immer noch Gott lieben.“

Vorurteile sind zwar nicht per se schlecht, in diesem Fall aber sind sie grundverkehrt. Das in aller Deutlichkeit aufgezeigt zu haben, ist das große Verdienst von Réginald Garrigou-Lagrange, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine in wahrsten Sinne des Wortes begeisternde Synthese von Theologie und Spiritualität, von Scholastik und Mystik erarbeitet hat.

Der 1877 in Südfrankreich geborene Garrigou-Lagrange lehrte über ein halbes Jahrhundert als Professor am Angelicum, der Dominikanerhochschule in Rom. Von 1917 bis 1960 hatte er dort den weltweit ersten Lehrstuhl für spirituelle Theologie inne. Über seine Theologie schrieb sein Schüler Marie-Rosaire Gagnebet, sie sei „ganz und gar dem Thomismus verpflichtet“. Davon zeugt insbesondere Garrigou-Lagranges siebenbändiger Kommentar zur „Summa theologiae“ (1938–1951) sowie sein Buch „La synthèse thomiste“ aus dem Jahr 1946.

Innenleben hat nur, wer dem Wort Gottes nachlauscht

Zugleich aber stand Garrigou-Lagrange in der Tradition der großen Mystiker und knüpfte insbesondere an die Lehren der heiligen Theresa von Ávila und des heilige Johannes vom Kreuz an, auf dessen Ernennung zum Kirchenlehrer im Jahr 1926 er entscheidenden Einfluss hatte. Was der heilige Thomas in seiner „Summa“ an Prinzipiellem über die heiligmachende Gnade, die eingegossenen Tugenden und die Gaben des Heiligen Geistes erarbeitet hatte, sah er beim heiligen Johannes vom Kreuz aufgenommen und zu eindrücklicher Konkretion entfaltet. Die Kulmination seiner Jahrzehnte währenden Arbeit auf dem Gebiet der spirituellen Theologie ist das 1938/1939 zuerst auf französisch erschienene zweibändige Werk „Des Christen Weg zu Gott“. Asketik und Mystik nach den drei Stufen des geistlichen Lebens („Les trois âges de la vie intérieure. Prélude de celle du ciel“).

Ausgangspunkt und Gegenstand der spirituellen Theologie ist das „innerliche Leben“. Gemeint ist jene „erhabene Art des still vertrauten Verkehrs, den jeder Mensch mit sich selbst führt, sobald er für sich allein ist, und wäre es auch im Lärm der Großstadtstraßen.“ Im Zentrum dieses Selbstgesprächs steht stets das, was einem Menschen am wichtigsten erscheint. Sobald nun aber einer „ernsthaft die Wahrheit und das Gute sucht“, so Garrigou-Lagrange, „strebt diese innere Unterhaltung mit sich selbst, zur Unterhaltung mit Gott zu werden“. Ja, ein echtes Innenleben hat nur, wer dem Wort Gottes nachlauscht und bereit ist, aus dem inneren Monolog einen Dialog mit Gott werden zu lassen.

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Das innerliche Leben vervollkommenen

Das erklärte Ziel der spirituellen Theologie besteht darin, das lebendige Zwiegespräch der Seele mit Gott so zu vertiefen, dass das innerliche Leben vervollkommnet wird. Das aber bedeutet nichts weniger als ein Streben nach Heiligkeit. So etwas ist leicht dahingesagt, so lange man sich darauf berufen kann, dass es eben nur um ein Streben gehe, und „streben“ ja noch lange nicht „erreichen“ heiße. Diese Art von Halbherzigkeit und Zaudern ist Garrigou-Lagrange völlig fremd. Er ruft uns mahnend ins Gedächtnis, was wir als Katholiken alle wissen müssen, nämlich dass es im Himmel „nur noch Heilige geben“ wird.

Wir sollen dem Aufruf Jesu endlich Folge leisten und vollkommen werden wie der himmlische Vater (Mt 5,48). Man kann gar nicht anders, als „Des Christen Weg zu Gott“ mit Ergriffenheit, ja sogar Erschütterung zu lesen: Hier meint es jemand wirklich Ernst mit Gott und fordert mich auf, es ihm gleich zu tun! Die Einschätzung des Dominikaners Swidbert Soreth, der die deutsche Übersetzung besorgte, trifft den Nagel auf den Kopf: „Garrigou-Lagrange sitzt nicht nur vor seinen Lesern gleichsam auf dem Lehrstuhl, er kniet neben oder vor ihnen auf dem Betstuhl.“

Die anfangende Seele bedarf der Reinigung

Die spirituelle Theologie handelt also vom „Weg des Heiles“, den der Christenmensch gehen muss, um schon in diesem Leben heilig zu werden. Dieser Weg umfasst die drei Entwicklungsstufen der anfangenden, der fortgeschrittenen und der vollkommenen Seele. Die anfangende Seele bedarf der Reinigung und der Übung in den natürlichen Tugenden. Das ist das Thema der sogenannten asketischen Theologie oder Aszetik. Aber bereits die fortgeschrittene Seele betritt das Gebiet der Mystik. Denn sie beschreitet den übernatürlichen Erleuchtungsweg, auf dem sie insbesondere durch den Einfluss der sieben Gaben des Heiligen Geistes geleitet wird. Die Entwicklung mündet schließlich in der mystischen Vereinigung der vollkommenen Seele mit Gott; eine Vereinigung, die auch „die eingegossene Beschauung der Glaubensgeheimnisse“ miteinschließt.

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Der normale Weg der Heiligkeit

Man kann gar nicht stark genug betonen, was Garrigou-Lagrange hier lehrt: Die mystische Vereinigung mit Gott ist kein Vorrecht weniger Auserwählter, sondern liegt auf dem „normalen Weg der Heiligkeit“! Zwar gibt es auch außerordentliche Gnaden, die nur wenigen zuteil werden, wie die verschiedenen Charismen, göttliche Offenbarungen, Visionen oder Stigmata. Aber das sind gewissermaßen nur äußerliche Zugaben. Die mystische Vereinigung mit Gott, zu der alle aufgerufen sind, ist „viel höher“, wie Garrigou-Lagrange mit Verweis auf den Aquinaten betont.

Die Wirkung Garrigou-Lagranges war schon zu Lebzeiten enorm. Seine äußerst lebendig gehaltenen Vorlesungen waren in der Ewigen Stadt weit über das Angelicum hinaus bekannt und ein regelrechter Publikumsmagnet. Er hatte großen Einfluss auf Pius XII., insbesondere auch auf dessen Enzyklika „Humani generis“ (1950), in der sich der Papst gegen die modernistischen Irrlehren der Nouvelle Théologie stellte. Wenig überraschend erfreute sich Garrigou-Lagrange bei deren Anhängern keiner Beliebtheit und war in der Folge auch einigen unsachlichen Angriffen ausgesetzt.

Die klare Aussprache würde heute viele überfordern

Heute würde mancher ihm vielleicht „Rigidität“ ankreiden wollen. Aber das wäre in etwa so sinnlos, wie einen Bauherrn, der sich weigert, sein Haus auf Sand zu bauen, des Fundamentalismus zu bezichtigen. Von seinen zahlreichen Schülern ist der spätere Papst Johannes Paul II., der bei ihm über den Glaubensbegriff des heiligen Johannes vom Kreuz promovierte, sicherlich der berühmteste.

Die letzten Jahre vor seinem Tod 1964 verbrachte Garrigou-Lagrange in geistiger Umnachtung; ein Zustand, der nur selten von lichten Momenten durchbrochen wurde. Wenn dies aber einmal geschah, kam nicht selten das unerschütterliche Gottvertrauen dieses knieenden Theologen zum Vorschein: „Es ist gut für mich, dass ich in diesem Zustand bin, denn Gott will es so. Auf der Erde gibt es nur eine Notwendigkeit: Gott zu lieben, und in meinem Zustand kann ich immer noch Gott lieben.“

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