Propheten wider Willen?

Die Zukunft des Glaubens und der Religiosität vorweggesehen: Werke von Francis Bacon und Gerhard Richter in Basel. Von Ingo Langner
Gerhard Richters „Verkündigung nach Tizian“ scheint  den Weg vieler Gläubigen aufzuzeigen.
Foto: www.gerhard-richter.com | Auf dem Weg zur Unschärfe: Gerhard Richters „Verkündigung nach Tizian“ scheint den Weg vieler Gläubigen aufzuzeigen.

Es ist offensichtlich: auch im Zeitalter der säkularen Aufklärung die Sehnsucht nach Weissagung nie erloschen. Diese Sehnsucht scheint eine zutiefst menschliche zu sein. So ist die vom Atheismus vorausgesetzte Abwesenheit wahrer Propheten von den Gottesverächtern auf Künstler übertragen worden. Insonderheit auf die Maler unter ihnen. Dies wohl auch deswegen, weil sich das wortlose Bild für diesen Zweck geradezu aufdrängt.

Was wir hier meinen, lässt sich am Expressionismus besonders gut exemplifizieren. Während die jenseits der Akademien ausstellenden Maler dieser das Aggressive, Deformierte und Wilde bevorzugenden Stilrichtung mit ihren Bildern noch vor dem Ersten Weltkrieg auf allgemeines Unverständnis stießen, meinte man nach dessen Ende, auf ihnen bereits den Vorschein der Schlachtfelder sehen zu können. Das Aggressive, Deformierte und Wilde zwischen den Keilrahmen war in Europa tödliche Realität geworden. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert und nach einem langen Abnabelungsprozess von der Tradition hatte der sich selbst „Moderne“ getaufte Stil endgültig „das Gute“ verworfen. Jetzt war „das Interessante zum Ersatz für das Schöne“ geworden und „ein neues Idol entstanden: die Kunst als höchster Wert“. Mit diesen Worten bringt es Hans Sedlmayr in seinem Essay „Die Revolution der modernen Kunst“ zielgenau auf den Punkt. Er begründet es so: „Erst jetzt und dadurch ist es möglich, dass Künstler der Kunst nicht nur dienen, sondern ihre Seele der Kunst der neuen Schönheiten opfern.“

Doch scheint bei dieser Umkehrung aller Werte „das Wahre“ nicht gänzlich auf der Strecke geblieben zu sein. Zumindest dann nicht, wenn man es nicht mehr aus der naturrechtlichen, mithin göttlichen Perspektive darstellt (wie es die Maler vom Frühmittelalter bis zum Barock gemeinsam mit ihren kirchlichen oder fürstlichen Auftraggebern gewohnt waren), sondern von jenem angeblich ausschließlich vogelfreien Blickwinkel eines „autonomen“ Künstlers, der sein Ego zum Maßstab aller Dinge macht.

Wie nah dieser „Autismus“, wohl eher ungewollt als gewollt, einer Prophezeiung kommen kann, lässt sich derzeit in Basel verifizieren. Dort nämlich ist Francis Bacons „Studie nach Velázquez' Porträt von Papst Innozenz X.“ im Rahmen der Giacometti Bacon Ausstellung in der Fondation Beyerle zu sehen, während in der Alten Abteilung der Kunsthalle Gerhard Richters „Verkündigung nach Tizian“ ständig zu bewundern ist. Wie schon aus den Titeln ablesbar, haben sich Bacon und Richter an Malern orientiert (und abgearbeitet), die wie der Venezianer Tizian ein Meister der Hochrenaissance, oder wie der Spanier Velázquez einer der Großen im Barock waren. Für die also, wie oben angedeutet, noch das Wahre, Gute und Schöne Maß, Mitte, Grundlage und Ausgangspunkt ihres Schaffens gewesen sind.

Wer Velázquez' Porträt von Papst Innozenz X. kennt (es entstand um 1650 und hängt heute in der römischen Galleria Doria Pamphili), den wird der Vergleich mit Bacons „Studie“ (von der es rund 50 Variationen geben soll) in einen Schock versetzen. Was beim Spanier noch lebensecht ausschaut, ist beim Engländer zur Inkarnation menschlicher Qual schlechthin geworden. Überdies hat Bacon seinen im Schrei monströs verzerrten Innozenz X. in einen Käfig gesperrt, aus dem an ein Entkommen wohl nicht zu denken ist.

Naturgemäß bestehen gewisse „weltlich“ denkende Interpreten darauf, dass es sich um ein anti-katholisches Bildwerk handelt. Uns jedoch überzeugt eher, Bacons Innozenz X. als Inbegriff der Leiden Jesu am Kreuz zu sehen. Denn bekanntlich ist jeder Papst nicht nur das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, sondern auch der Stellvertreter Christi auf Erden. Der 1909 in Dublin geborene Francis Bacon ist 1992 in Madrid gestorben. Die Leiden von Johannes Paul II., sein Gefesseltsein auf dem Rollstuhl, das Verstummen des Moribunden, all das hat Bacon also nicht mehr erlebt. Darum kann sein Innozenz X. wie eine Prophetie auf den polnischen Papst gelesen werden.

Dem 1932 in Dresden geborenen Gerhard Richter ist Tizians um 1540 entstandene „Verkündigung an Maria“ erstmals 1972 im Treppenhaus der venezianischen Scuola Grande di San Rocco im Original unter die Augen gekommen. Richters Serie „Verkündigung nach Tizian“ beginnt mit einer für den Richterschen Stil typischen, in die Unschärfe verfremdeten Kopie. Auf den folgenden fünf Bildern wird diese Unschärfe so ins Extrem getrieben, dass am Ende nur eine Farbwolke übrig bleibt. Nur wer den Ausgangspunkt kennt, wird auch da noch das ursprüngliche Verkündigungsmotiv zumindest erahnen können. Gewöhnlicherweise wird Richters Bildfolge als Demonstration für den Weg gesehen, den die moderne Malerei genommen hat. Also die Abkehr vom Gegenständlichen hin zur Abstraktion. Was sicherlich nicht falsch und von Gerhard Richter womöglich sogar intendiert ist. In unserem „prophetischen“ Kontext jedoch wirken die Bilder wie ein Menetekel. Wir sehen darin nämlich gespiegelt, wie der Glaube in der westlichen Welt verdunstet. Die Unschärfe wirkt als Sinnbild für die zunehmende religiöse Entfremdung.

Richter hat seine Bildfolge 1973 gemalt. Fast zeitgleich begann der Exodus der Priester, Mönche und Nonnen aus der römisch-katholischen Kirche. Ihrem Auszug folgte bald darauf jener der Laien, der immer noch anhält. Aus der Unschärfe ist mittlerweile sogar ein millionenfacher Unglaube geworden – innerhalb und außerhalb der Kirche, wenn man realistisch ist. Richters „Verkündigung nach Tizian“ zeigt also auf spektakuläre Weise, wie sich in Europa der christliche Glaube aufgelöst hat. Was unsere These stützt, dass man auch in den Werken zeitgenössischer Maler noch Wahres finden kann.

 
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