Nichts ist dem aufgeklärten Selbstverständnis des modernen Menschen fremder als die Erfahrung eines Wunders – so scheint es zumindest. Sieht man aber genauer hin, so entdeckt man leicht säkulare Varianten. So hat der Jurist Carl Schmitt den Ausnahmezustand als säkularisiertes Wunder bezeichnet. Und mit dem Ernstfall des Ausnahmezustands haben wir in den vergangenen Jahren ja einige schockartige Erfahrungen gemacht. Man erinnere sich nur an den islamistischen Terror des 9. Septembers 2001, an die Finanzkrise des Jahres 2008, aber auch an die Corona-Epidemie und die blitzkriegartige Machtergreifung der Taliban – angeblich konnte niemand den sofortigen Zusammenbruch der afghanischen Armee voraussehen, auch die Experten nicht. Man spricht dann gerne von einem Schwarzen Schwan, also einem Ereignis, das völlig unerwartet eintritt.
„Für den ungebildeten Aufgeklärten
ist das Wunder der Inbegriff des Irrationalen“
Aber säkulare Wunder gibt es auch im Positiven, wenn nämlich eintritt, was niemand zu hoffen gewagt hat, zum Beispiel „das Wunder von Bern“ 1954, als Deutschland völlig unerwartet Fußballweltmeister wurde, oder das „Wirtschaftswunder“, das ein völlig zerstörtes und demoralisiertes Land in Windeseile an die Spitze Europas zurückgeführt hat. Und die ganze westliche Welt hat sich ja längst daran gewöhnt, immer wieder mit neuen Wunderwerken der Technik beglückt zu werden.
All dies sind natürlich von Menschen bewirkte Wunder. Normalerweise denkt man beim Begriff Wunder aber an einen Eingriff Gottes in den Naturablauf. Und das widerspricht eben dem rationalistischen Weltverständnis des modernen Menschen. Für den ungebildeten Aufgeklärten ist das Wunder der Inbegriff des Irrationalen. Doch schon der Kirchenvater Augustinus wusste es besser. Das Wunder muss nämlich nicht irrationalistisch interpretiert werden. Es steht nicht im Widerspruch zur Natur, sondern nur im Widerspruch zur uns bekannten Natur – eben als der schwarze Schwan, den es ja doch gibt, obwohl fast jeder Mensch nur weiße Schwäne kennt.
Blindflug in eine unbekannte Zeit
Der Schwarze Schwan ist die Metapher für das absolut Unerwartete, das die Amerikaner „the unknown unknown“ nennen. Zu Deutsch: Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Dass das absolut Unerwartete geschieht, wird in unserer Zeit immer wahrscheinlicher, denn sie ist durch wachsende Komplexität und damit Undurchsichtigkeit gekennzeichnet. Nicht zufällig hat heute der scholastische Begriff der Kontingenz in der Soziologie Konjunktur. Unsere Gesellschaft befindet sich im Blindflug in eine unbekannte Zukunft.
Man kann deshalb nur noch „auf Sicht“ fahren. Und jede Entscheidung, die getroffen werden muss, kann nur noch unter den Bedingungen von Unsicherheit und Ungewissheit getroffen werden. Doch wie soll man mit dieser Situation fertig werden? Jedenfalls nicht durch planende Vernunft. Managementtheoretiker und Organisationssoziologen empfehlen ein Training der Geistesgegenwart und Spannkraft, Mut zur Risikobereitschaft und eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit. Das sind aber nur Äquivalente des Gottvertrauens. Denn es gibt nur einen erfolgreichen Umgang mit dem Unverfügbaren, Schicksalhaften: Religion.
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