„Planübererfüllung“ sieht anders aus

Deutschland einig Vaterland? Im Bereich der Medien ein mühsamer Prozess. Die deutsche Teilung zeigte sich vor allem in der unterschiedlichen Sprache und der abweichenden Mediennutzung.
DDR-Radiogerät Pillnitz
Foto: dpa | Radio und Fernsehen waren im Osten beliebter als im Westen – auch, weil sie ein Fenster zur freien Welt waren.

Im geteilten Deutschland manifestierte sich der ideologische Wettstreit der politischen Großsysteme nicht nur in der Wirtschaft, in der Kultur und im Sport, sondern auch in den Medien. Zwischen der DDR und der Bundesrepublik entwickelte sich dabei über Stacheldraht und Mauer hinweg ein „kontrastiver Dialog“, wie es in einem Beitrag der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) zur Entstehung von Ost- und Westfernsehen heißt, also eine interaktive, rückgekoppelte Auseinandersetzung, die weniger auf Verständigung zielte als vielmehr auf Abgrenzung.

Radio und Fernsehen - als Fenster zur freien Welt

Das ging von beiden Seiten aus. Doch vor allem der Osten war medial bemüht, den Westen in ein schlechtes Licht zu rücken. Ein schwieriges Unterfangen, konnten die meisten Ostdeutschen die Propaganda der DDR-Rundfunkmedien doch sehr leicht mit den Informationen des nahezu flächendeckend zu empfangenden West-Angebots vergleichen – bis auf einige Sachsen und Mecklenburger in ihren „Tälern der Ahnungslosen“. Wegen der grenzüberschreitenden Natur der elektronischen Medien fand der Wettbewerb denn auch vor allem via Radio und Fernsehen statt. Und: Radio und Fernsehen waren im Osten beliebter als im Westen – auch, weil sie ein Fenster zur freien Welt waren.

Die Ost-Medien waren dabei auch aufgrund ihres Selbstverständnisses kämpferischer als ihre westdeutschen Pendants. Sie waren das Sprachrohr von Staat und Partei. Ihr Auftrag bestand darin, über die Regierungsarbeit wohlwollend zu berichten und damit den Medien des „Klassenfeindes“ etwas entgegenzusetzen. Die Rundfunkanstalten der Bundesrepublik hingegen verstanden sich als „staatsfern“ (bpb) und sahen ihre Aufgabe eher in der kritischen Begleitung der Regierenden und der Parteien. Diese Differenz zeigte sich auch in einer unterschiedlichen Sprache, die zu weiteren Gräben zwischen Ost und West beitrug. Nach der deutschen Einigung mussten die Medien im vereinten Deutschland – auch nach Herstellung einer einheitlichen Struktur – erst eine gemeinsame Sprache finden.

Die Sprache in der DDR war geprägt von bürokratischen Sonderformen und Neologismen („Objekt“, „Winkelement“, „Fahrerlaubnis“, „Großvieheinheit“) sowie politischen Euphemismen, die teilweise an Orwells „Neusprech“ erinnern („Planübererfüllung“, „antifaschistischer Schutzwall“, „versuchte[sic!] Republikflucht“, „Friedenskampf“, „geflügelte Jahresendzeitfigur“). Texte der medialen Berichterstattung lassen sich aufgrund der Wortwahl zielsicher dem Osten Deutschlands zuordnen. Während im Westen das Volk die Politik beherrscht (zumindest theoretisch), so dominiert im Osten das Präfix „Volks-“ den politischen Sprachgebrauch – von „Volkskammer“ bis „Volkspolizei“.

Am 3. Oktober 1990 ging somit nicht nur die DDR unter, sondern auch ihre Sprache. Meinungsfreiheit braucht einen Ausdruck in freier Sprache. Die Wende der Sprache in Ostdeutschland wird eingeleitet durch die Sprache der Wende, in der eine Befreiung spürbar wird, die dem Wandel der politischen Umstände entspricht. Wie ein Seismograph zeigte die Wende-Sprache die gesellschaftlichen Veränderungen an. Man traute sich wieder, eine Meinung zu äußern, in einer Sprache, die dafür gemacht ist. „Unsere demokratische Entwicklung“, meinte damals Reinhold Vaatz (Neues Forum), „ist ja in erster Linie eine Befreiung der Sprache.“

Die Revolution setzte vor allem „semantische Signale“, wie Christa Wolf bemerkte, um zu ergänzen: „Die Sprache springt nun aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie bisher eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter.“ Gefühlsausdrücke, mal aggressiv („Sägt die Bonzen ab, schützt die Bäume“), mal kreativ („Kein Artenschutz für Wendehälse“), mal spielerisch („Reformen – aber unbekrenzt“; in Anspielung auf Honecker-Nachfolger Egon Krenz), doch immer befreiend. Die „normale, verärgerte Sprache“ (Stefan Heym) eroberte die Straßen in Dresden, Leipzig und Ost-Berlin.

Eine derart lange Geschichte der Teilung und der politisierten Sprachformen wird nicht von heute auf morgen überwunden. Deutlich wird das auch am Nutzerverhalten. Lange noch gab es das Phänomen des Ost-Zuschauers beziehungsweise -Lesers, der sich vom Kollegen aus dem Westen unterschied. Der Ostdeutsche sah auch zehn, fünfzehn Jahre nach der „Wende“ mehr fern (täglich etwa 30 Minuten länger als der Westdeutsche), hörte länger Radio und las andere Zeitungen und Zeitschriften. Das ergaben Studien in den ersten 2000er Jahren. Der Markt der Tagespresse wurde demnach auch gut ein Jahrzehnt nach Mauerfall und Einheit von den Erben der SED-Bezirkszeitungen beherrscht.

Deren Einfluss ist – auch durch den Aufstieg des Internet in den letzten zehn Jahren – zurückgegangen, doch immer noch gibt es mediale Wellen der Ostalgie, die die Ausstrahlung alter „Polizeiruf 110“-Folgen („Volkspolizei – aufmachen!“) ebenso befeuert wie Hommagen an ehemalige DDR-Sport- und Unterhaltungsstars. Das mag alles noch ganz nett sein. Völlig unverständlich aber, weshalb eine Zeitung wie das „Neue Deutschland“ auch eine Generation nach dem Mauerfall immer noch existieren kann. Das Blatt gehört zwar zu den deutschen Tageszeitungen mit den größten Auflagenverlusten der vergangenen Jahre (die verkaufte Auflage ist seit 1998 um fast zwei Drittel auf rund 25 000 Exemplare gesunken), doch allein die Tatsache, dass eine solche Zeitung überhaupt noch eine Leserschaft hat, muss erschrecken.

Die – zumindest weitgehend – gemeinsame Sprache sollte dabei helfen, die innere Einheit in Zukunft noch deutlicher spürbar werden zu lassen. Obwohl das sicher eine weitere Generation braucht. Die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands ist wichtig, denn davon hängt auch die Freiheit des deutschen Volkes ab. Wer jene begräbt, bringt auch diese in den Sarg. Oder wie man in der DDR sagte: ins „Erdmöbel“.

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