Lebensschutz

Plädoyer für eine solidarische Willkommenskultur

Lebensschutz könnte so einfach sein! Nicht nur, weil jeder Mensch mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen beginnt, sondern auch, weil das Verfügungsrecht des Stärkeren über den Schwächeren eindeutig unserem Rechtsempfinden widerspricht. Von Professor Christoph von Ritter
3D-Darstellung der Befruchtung
Foto: (56882025)

Wann das Leben eines Menschen beginnt und vollen Schutz genießen soll, wird kontrovers diskutiert. Eine gefährliche Diskussion! Denn ganz offensichtlich können Unklarheiten in diesem Bereich lebensbedrohlich sein und hätten für jeden von uns vor der Geburt zu tödlichen Konsequenzen führen können.

Die wichtige Frage, wann das eigene Leben begonnen hat, werden wohl die meisten mit ihrem Geburtsdatum beantworten. In der Tat haben wir alle zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt. Nun weiß aber jedes Kind, spätestens, wenn es ein Geschwisterchen bekommt, dass dieses im Bauch der „Mama“ groß geworden ist. Weiterhin steht auf dem Lehrplan jeder Grundschullehrerin, dass sie den Kindern erklären soll, wie sich am Anfang des Lebens eines Menschen die Samenzelle des Vaters mit der Eizelle der Mutter vereinigt.

Auch aus naturwissenschaftlicher Sicht markiert diese sogenannte Gametenfusion den Beginn unseres Lebens. Vier Argumente, die sogenannten „SKIP-Kriterien“, werden hierfür ins Feld geführt. „S“ bedeutet, dass mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle eine definierte Spezies entsteht, die in ungebrochener Kontinuität, „K“, zum erwachsenen Menschen führt. Mit der Fusion des mütterlichen und des väterlichen Genoms ist Mensch in seiner ganz eigenen Individualität, „I“, angelegt. Schließlich – im höchsten Maße bewundernswert und schwer begreiflich – hat tatsächlich die kleine befruchtete Eizelle, auch Embryo genannt, das Potenzial, „P“, sich zu allem zu entwickeln, was einen erwachsenen Menschen ausmacht, besitzt somit „Totipotenz“.

Die SKIP-Kriterien bilden unter anderem auch die Grundlage für die juristische Festlegung des Beginns des Lebens eines Menschen. Im § 8 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) wird der Schutz eines Embryos vom Zeitpunkt der Gametenfusion an festgeschrieben. Das hat auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Oktober 2011 bestätigt, als er dem Bonner Stammzellforscher, Professor Oliver Brüstle, verbot, Menschen im Embryonalstadium für seine Forschung zu „verbrauchen“ (Rechtssache C-34/10). Ein weiterer Antrag auf Patentierung von menschlichen Embryonen wurde vom EuGH 2014 ebenfalls abschlägig beschieden (Rechtssache C-364/13).

Die allgemeine Meinung in Europa scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Die bisher größte Bürgerinitiative in Europa (gesammelt wurden knapp zwei Millionen Unterschriften) mit dem schönen Titel „One of Us“ hat eine uneingeschränkte Solidarität mit dem Embryo vom Zeitpunkt der Verschmelzung von Samen- und Eizelle zum Ausdruck gebracht und den Schutz des Embryos eingefordert.

Philosophisch sollte die goldene Regel der Ethik das Leitmotiv unseres Handelns sein: „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu!“ Mithin verbietet sich das Töten eines ungeborenen Kindes. Diese Forderung wird von der katholischen Kirche konsequent vertreten und wurde kürzlich markant von Papst Franziskus bei der Generalaudienz am 10. Oktober 2018 erneuert.

Trotz naturwissenschaftlicher, juristischer, ethischer und religiöser Festlegung wird die Debatte um den Schutz des Lebens eines Kindes vor der Geburt hierzulande unverändert lebhaft geführt. Dazu trägt auch die deutsche Abtreibungsgesetzgebung bei. Bei aller berechtigten Kritik wird dabei vielfach übersehen, das mit § 218 Strafgesetzbuch dem ungeborenen Kind – entgegen der häufig vertretenen Meinung – das Lebensrecht keineswegs abgesprochen wird.

Auf der Basis von dem – für viele nicht leicht nachvollziehbaren – „Grundsatz der praktischen Konkordanz“ (Konrad Hesse, 1999) wird lediglich postuliert, dass das Lebensrecht des ungeborenen Kindes nicht gegen die Autonomie der Mutter durchgesetzt werden könne und deshalb die Tötung des Kindes für die Mutter – unter bestimmten Auflagen – straffrei bleiben solle. Der in die Diskussion geratene § 219a legt konsequenterweise fest, dass der Arzt, der einen tragischen Schwangerschaftskonflikt mit der Tötung des ungeborenen Kindes aufzulösen versucht, für diese Tötung natürlich nicht werben darf.

Es gibt im Wesentlichen drei Argumente, mit denen versucht wird, zu begründen, weshalb das Lebensrecht eines ungeborenen Kindes eingeschränkt werden könne. Das erste Argument gibt zu bedenken, dass ohnehin viele Embryonen vor der Einnistung in die Gebärmutter untergehen. In der Tat gelingt die faszinierende Fusion von kindlichem Embryo und mütterlicher Gebärmutter nicht immer. Diese Einnistung – Ärzte sprechen von der Nidation – des Embryos in die Gebärmutter ist ein Vorgang, der auch heute bis ins Letzte noch nicht verstanden wird und auf wundersame Weise für neun Monate zwei Individuen ganz eng zusammenleben lässt. Aus der Tatsache, dass die Nidation häufig nicht gelingt und die Natur scheinbar verschwenderisch mit Embryonen vor der Nidation umgeht, wird abgeleitet, dass auch der Mensch Embryos vor der Nidation für seine Zwecke nutzen darf. Das aber ist ein klassischer naturalistischer Fehlschluss!

Die „naturalistische Logik“ leitet aus Vorgängen in der Natur eine Berechtigung für menschliches Handeln ab. Tatsächlich folgt aber aus der Tatsache, dass zum Beispiel ein Mensch bei einem Sturm von einem Dachziegel erschlagen werden kann, keinesfalls die Berechtigung für Menschen, ebenfalls Ziegel von Dächern auf Passanten zu werfen.

Ein zweites Argument zum beliebigen Umgang mit Menschen vor der Geburt führt ins Feld, der Embryo und spätere Fetus, Mediziner sprechen ab der 9. Schwangerschaftswoche vom Fetus, könne noch keine echten Schmerzen empfinden. Das ist zwar richtig: Das rudimentäre zentrale Nervensystem entwickelt sich erst ab der 8. Woche der Schwangerschaft. Ab dann können zwar auf entsprechende Reize ungezielte Abwehrreaktionen beobachtet und ab der 12. Schwangerschaftswoche auch die Freisetzung von Stresshormonen gemessen werden. Eine volle Empfindung von Schmerz, wofür die Ausbildung des Großhirns Voraussetzung ist, ist aber wohl erst in der späten Schwangerschaft ab der 20. Woche zu erwarten. Unabhängig davon ist aber das Argument, Schmerzfreiheit rechtfertige die Tötung eines Menschen, kurios. Die Jakobiner haben mit diesem Argument die Guillotine als menschenfreundliche Erfindung gefeiert. Wäre Schmerzfreiheit eine Rechtfertigung für Tötung, wäre außerdem kein Mensch in einer Narkose seines Lebens mehr sicher!

Ein drittes Argument betrifft die fehlende Selbstbestimmung des Menschen vor der Geburt. Dieses Argument ist aus der Philosophie des britischen Empirismus abgeleitet. So postuliert John Locke (1632–1704), dass Selbstbestimmung die Voraussetzung für die Würde eines Menschen sei. Die Garantie der Selbstbestimmung, wie sie sich auch in Artikel 2 unseres Grundgesetzes findet, ist in der Tat eine wichtige Voraussetzung für die freie Selbstentfaltung eines Menschen. Allerdings haben die Gründungsväter Wert darauf gelegt, festzulegen, dass Menschenwürde und Lebensschutz gerade nicht durch Selbstbestimmung bedingt sind. Deshalb steht der uneingeschränkte Schutz des Lebens von Menschen und der Respekt vor ihrer Würde an erster Stelle in Artikel 1 des Grundgesetzes, noch vor der Garantie der Selbstbestimmung in Artikel 2. Diese Reihenfolge zählt zu den wichtigsten Grundlagen für das Funktionieren einer solidarischen Gesellschaft. Das Grundgesetz schützt uns nämlich gerade in den häufigen Phasen unseres Lebens, in denen wir nicht selbstbestimmt sind: vor der Geburt, in der Kindheit, in Krankheit und im Alter. Ja, selbst in den vielen Stunden, die wir jeden Tag im Schlaf verbringen, sind wir zwar nicht selbstbestimmt, können uns aber darauf verlassen, weder Würde noch Lebensschutz zu verlieren.

Die Vorstellung also, dass die Selbstbestimmung eine notwendige Voraussetzung für Menschenwürde und Schutz des Lebens eines Menschen sei, hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Im Gegenteil: In einer solidarischen Gemeinschaft muss gerade für den Schutz der Schwachen gesorgt werden, die eben typischerweise nicht selbstbestimmt sind und nicht für sich selbst aufkommen können. Wie gefährlich, ja lebensbedrohlich der Verlust dieser wichtigen Einsicht sein kann, wird deutlich, wenn der Utilitarist Peter Singer geradezu beeindruckend konsequent postuliert, dass Kindern auch nach der Geburt wegen ihrer weiterhin fehlenden Selbstbestimmung beliebig das Lebensrecht entzogen werden könne. Hier wird besonders klar: Das Verfügungsrecht des Stärkeren über den nicht selbstbestimmten Schwächeren widerspricht eindeutig unserem Rechtsempfinden!

Die drei Hauptargumente, die eine Einschränkung des Schutzes eines Kindes vor der Geburt rechtfertigen sollen, sind demnach nicht überzeugend. Der Philosoph Robert Spaemann stellt ganz grundsätzlich fest: „Jeder Mensch hat eine Würde von Anfang an, diese braucht ihm nicht zugeteilt werden und darf ihm nicht entzogen werden!“

Intuitiv mag es schwer fallen, zu erfassen, dass unser aller Leben mit der Vereinigung von Samen- und Eizelle beginnt. Aber wir alle haben nun einmal unser Leben als Embryo begonnen und wurden von unseren Eltern schon vor der Geburt willkommen geheißen. Nur so konnten wir das Licht der Welt erblicken. Daher sollte es in einer solidarischen Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sein, dass auch wir unsere Mitmenschen schon als Embryo, vom ersten Tag ihres Lebens an, mit einem herzlichen „One of Us“ begrüßen.

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