Schwester Schlickmann, Pater Josef Kentenich ist Gründer der internationalen Schönstattbewegung. Sie erforschen seit vielen Jahren sein Leben, seine Pädagogik und Spiritualität. Gerade haben Sie eine neue Biografie über ihn veröffentlicht. Was hat Sie zu Ihrer Forschung inspiriert?
Je mehr ich forschte, desto interessanter fand ich Person und Lehre Pater Kentenichs. Sein recht spannendes Leben scheint mir aber noch viel zu wenig bekannt zu sein, deswegen der Versuch, ihn durch eine erzählende Biografie bekannter zu machen.
Welche philosophischen, psychologischen, pädagogischen und theologischen Strömungen waren für die Entwicklung seines pädagogischen Ansatzes wichtig? Und welche Rolle spielten seine eigenen Erfahrungen?
Er hat die Strömungen seiner Zeit wach aufgenommen und entscheidende Anliegen herausgehört. Aber seine primäre Inspiration kam aus der besonderen Fähigkeit, Menschen, Zeitereignisse intensiv zu beobachten und zu verstehen. Dadurch war seine Deutung tiefgreifend. Doch es blieb bei ihm nicht bei theoretischen Erkenntnissen. Er versuchte, konkret Antwort zu geben auf das, was er im Kontakt mit Menschen und in seiner eigenen Lebensgeschichte erfahren hatte und sah den ganzen Menschen. Mein Pädagogikprofessor, Meinert A. Meyer an der Uni Münster, schrieb im Gutachten der Doktorarbeit zur Pädagogik Kentenichs: „Er hat Theologie, Psychologie und Pädagogik zusammengedacht. Das macht ihn einzigartig.“
Erziehung ist heute, in einem pluralistischen, digitalisierten und materialistisch eingestellten Umfeld eine schwierige Aufgabe. Welche Erkenntnisse aus der Pädagogik Pater Kentenichs halten Sie vor diesem Hintergrund für besonders wichtig?
Pater Kentenich würde gerade heute sagen: Wir können die Uhr nicht zurückdrehen, wir leben in dieser Zeit mit all ihren Herausforderungen, ihrer Außensteuerung und vielen Fremdeinflüssen, aber wir können viel tun, unsere eigene Innenwelt, unseren inneren Seelenhaushalt anzureichern, zu pflegen und zu stärken. Persönlichkeitserziehung war für ihn von Anfang sehr zentral. Darüber hinaus wächst Persönlichkeit in und durch Gemeinschaft, in der echte Werte an Vorbildern erlebbar werden.
Was würde Josef Kentenich Erziehern, Lehrern und Eltern heute besonders ans Herz legen?
Erstens: Sich selbst zu erziehen. Erst sollte man versuchen, die Probleme, die man im Gegenüber wahrnimmt, in sich selbst zu lösen: Habe ich nicht in mir ähnliche Schwächen und Grenzen? Und dann daran zu arbeiten. Das Wort des Erziehers erhält dadurch mehr Gewicht.
Zweitens: In jungen Menschen das zu fördern, was Pater Kentenich die Entdeckung des „Persönlichen Ideals“ nannte. Gott hat in jeden Menschen eine originelle Idee gelegt, die es zu entfalten gilt. Pater Kentenich hat viele begleitet und bestärkt, entsprechend ihren Stärken und Schwächen, Anlagen und Fähigkeiten, ihrem Leben von diesem Ideal aus einen übergeordneten Sinn zu geben. Dazu gehörte für ihn auch die Förderung echter Gemeinschaft, ob in der Schule oder Familie. Das Gegenüber soll durch Eltern und Erzieher den eigenen Wert nicht nur erkennen, sondern auch erleben können: „Erziehen heißt selbstlos fremdem Leben dienen.“
Die Schönstattbewegung ist heute in vielen Ländern verbreitet. Daraus sind zahlreiche pädagogische Initiativen entstanden. Was ist international das Spezifische an diesen Einrichtungen?
Der Grundansatz sucht echte Gemeinschaft mit einem hohen Grad gegenseitiger und sozialer Verantwortung zu verbinden mit der Förderung jeder Einzelpersönlichkeit. Da nehmen etwa Klassenkonferenzen sich für jeden Schüler enorm viel Zeit, um herauszufinden, wie man den Einzelnen noch besser fördern, Probleme auffangen kann. Man sucht bewusst die enge Zusammenarbeit mit den Eltern. Oder vermittelt bestimmte Werte in klassenübergreifender Projektarbeit, gestaltet Unterrichtsreihen, die die Persönlichkeitsbildung oder die soziale Verantwortung in den Mittelpunkt stellen. Die Schüler sollen die Schule als ein Stück Heimat und die Lehrer als vertrauenswürdige und ideal gesinnte Ansprechpartner erleben können. Vor der guten Leistung steht der Mensch im Fokus.
Die Situation der Kirche ist zumindest in Deutschland krisenhaft. Die Ansichten, was zu tun ist, um die Kirche für die Zukunft gut aufzustellen, gehen auseinander. Was könnten aus der Pädagogik Pater Kentenichs Beiträge für eine erneuerte Kirche sein?
Pater Kentenich sprach gern von „der Kirche am neuen Ufer“. Ich denke, wir sind genau auf der „Überfahrt“ zu diesem Ziel. Er würde wahrscheinlich nicht zuerst bei Strukturfragen ansetzen, sondern zu einer Erneuerung von innen her anregen, im Glauben und im Leben. Das Auseinanderdriften von christlichen Idealen und der Realität des Lebens vieler Christen würde er wohl nicht mit einer Anpassung der Ideale ans Leben beantworten, sondern zum Tiefergraben herausfordern. In einer mehr und mehr „entgrenzten“ Gesellschaft kommen wir ohne diese Orientierungshilfen nicht aus.
Zu Anfang Ihres neuen Buches zitieren Sie Nietzsche: „Das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben!“ Pater Kentenich hat risikoreich gelebt und große Fruchtbarkeit entfaltet. Was könnte es für Christen heute heißen, „gefährlich“ zu leben?
Heute lebt gefährlich, wer alternativ denkt und lebt, wer sich weigert, im Mainstream mitzuschwimmen. Profil zeigen ist heute gefragt, wobei man weniger durch Worte, als durch geglückte Lebensentwürfe und das vorgelebte Beispiel beeindruckt. Das aber ist risikoreich und mutig, denn es wird nicht bei jedem Applaus finden; man kann durch Schlagworte abgestempelt und ohne weiteres mundtot gemacht werden. Profilierten Menschen zu begegnen ist aber eine Sehnsucht, die viele heute haben. Sie sind beeindruckt, wenn jemand sich nicht einschüchtern lässt und seinen Weg geht.
Dorothea Schlickmann: Josef Kentenich. Ein Leben am Rande des Vulkans. Herder-Verlag 2019, 344 Seiten, EUR 24,–