Feuilleton

Pädagogik in Marx- und Engelszungen

Mit dem Schlagwort der „Bildungsgerechtigkeit“ betreiben heute noch viele Pädagogen marxistische Erziehung. Von Josef Kraus
Antiautoritäre Erziehung in marxistischer Tradition
Foto: K.R.Ä.T.Z.A. | Antiautoritäre Erziehung in marxistischer Tradition: Noch 1997 beklebte das „Kinderschutzzentrum“ K.R.Ä.T.Z.A.

So reinrassig marxistisch wie bei den 68ern und in der DDR geht es heutzutage in deutscher Pädagogik nicht mehr zu. Aber subliminal, ja subversiv, allerdings verbal geschmeidiger setzen sich „linke“ Vorstellungen von „Bildung“ nach wie vor in beachtlicher Weise durch.

Erinnern wir uns: Das „Kommunistische Manifest“ von 1848 verlangte „die öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder und die Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion“. Präzisiert wurde diese Forderung im gleichen Jahr von einem Arbeiterkongress. Unter anderem wollte man die Beseitigung des Religionsunterrichts und das Verbot privater Schulen. Das Kind sah man als kleinen Werktätigen. Ihre Umsetzung fanden diese Vorstellungen durch den über lange Zeit auch in Westdeutschland hochgerühmten sowjetischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939). Er verstand Erziehung als Hinführung zum kollektiven Sowjetmenschen durch manuelle Arbeit. Ihre Umsetzung erfuhr marxistische Pädagogik sodann geradezu vorbildlich in der DDR mit ihrer einheitlichen „Polytechnischen Oberschule“ (POS) – inhaltlich hochideologisiert und auf den Kampf gegen den „kapitalistischen“ Klassenfeind ausgerichtet. Dazu bedurfte es laut DDR-Schulgesetz der sozialistisch gebildeten Persönlichkeit. In Paragraph 1 dieses von 1965 bis 1990 geltenden Gesetzes hieß es: „Das Ziel des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems ist eine hohe Bildung des ganzen Volkes, die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten … Das sozialistische Bildungssystem trägt wesentlich dazu bei, die Bürger zu befähigen, die sozialistische Gesellschaft zu gestalten, die technische Revolution zu meistern und an der Entwicklung der sozialistischen Demokratie mitzuwirken …“ An der „BRD“-Pädagogik ging dieser totalitäre Ansatz keineswegs spurlos vorüber. Nachfolgend ein paar von vielen möglichen Beispielen.

Erstens die Konfliktpädagogik der 68er: Federführend bei der vermeintlich notwendigen intellektuellen (Neu-)Gründung der „BRD“ war die ab 1923 aufgebaute, 1933 geschlossene und 1951 wiedereröffnete „Frankfurter Schule“. Ursprünglich war die „Schule“ als Forschungsstätte für Marxismus, Sozialismus und die Probleme der Arbeiterbewegung begründet worden. Mithilfe der Sozialwissenschaften sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse einer eingehenden Kritik unterzogen werden. Als wichtigste Kritikpunkte galten die Phänomene der Entfremdung und Verdinglichung des Menschen. Der modernen Industriegesellschaft wurde der Charakter des Repressiven vorgehalten – etwa in Analogie zu Herbert Marcuse durch die Unterdrückung natürlicher Triebe. Diese Kritische Theorie wurde als Quasi-Staatsideologie inszeniert. Die politische Pädagogik bestand darin, dass man alle Institutionen unter „Ideologieverdacht“ stellte, auch die Familie. Bereits im Kommunistischen Manifest war ja die „Aufhebung der Familie“ gefordert worden. Sie galt den Linken als „Zelle des Faschismus“. Selbst den sogenannten Frontalunterricht sah man als faschistisch an: „Man kann nicht über den Faschismus in einem autoritären Klima unterrichten, das heißt im Frontalunterricht und entlang operationalisierter Lernziele, ohne Schüler latent zu faschisieren“, schrieb ein in seinem Kreis kultisch verehrter 68er Soziologe und Schulgründer namens Oskar Negt 1997.

Zweitens das Lernziel „Emanzipation“: 1972 gab es die hessischen Rahmenrichtlinien – übrigens schulartübergreifend konzipiert, also für eine spätere Monopol-Gesamtschule. Dort wurden Lernziele wie die folgenden definiert: „So braucht also der Unterricht nicht nachzuweisen, dass Gerichte, Polizei oder Feuerwehr notwendig sind, sondern Unterricht setzt dort an, wo bestimmte Maßnahmen/Entscheidungen von Trägern öffentlicher Aufgaben Kritik auslösen.“ Rechtschreibung wurde gewertet als „Ausübung von Herrschaft“ und „Unterwerfung unter herrschende Normen“. Selbst ein poetischer Text sollte diskutiert werden hinsichtlich seiner „emanzipatorischen Möglichkeiten“. In den NRW-Richtlinien des Jahres 1973 für den Politikunterricht war als Ziel unter anderem definiert: „Bereitschaft, nicht akzeptierbare Gehorsamsforderungen abzulehnen“. Solchen Rahmenplänen folgten die Schulbücher. Bis weit hinein in die 1980er Jahre sind diese Bücher von der „emanzipatorischen“ Pädagogik beeinflusst; sie waren angelegt auf die Konflikthaftigkeit des Verhältnisses Eltern-Kinder und auf Gehorsam als Belastung. Selbst ein 1978 erschienenes Schulbuch des Diesterweg-Verlages für den Religionsunterricht der Oberstufe trug den Titel „Zwänge“. Pädagogik wurde zur Hilfswissenschaft marxistischer Theorie. Im damals führenden Fachorgan „Zeitschrift für Pädagogik“ waren dementsprechend die am häufigsten zitierten Namen Habermas und Marx. Halbbildung und Oberflächlichkeit waren die Folge.

Der pädagogische Marxismus heute

Und wie steht es heute um die pädagogischen „Marx- und Engelszungen“ (ein Begriff übrigens, den der Liedermacher Wolf Biermann geprägt hat)? Hier gibt es einige epigonale Vollendungen. Wiederum einige von vielen möglichen Beispielen.

Dazu gehört erstens die nicht enden wollende Euphorie um eine egalisierende und „klassenlose“ Einheitsschule, die als Gesamtschule in Deutschland freilich eine Geschichte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich hat. Je nach Regierungskonstellation – vor allem wenn sie rot-dunkelrot-grün gefärbt ist – feiert die Gesamtschule, verbal mittlerweile befördert zur „Gemeinschaftsschule“, fröhlich Auferstehung. Siehe Baden-Württemberg, das sein Schulsystem damit zwischen 2011 und 2016 ziemlich an die Wand gefahren hat. Ummantelt wird eine solche Politik gerne mit dem Schlagwort der „Bildungsgerechtigkeit“. „Abitur für alle“ und „Gymnasium für alle“ – auch qua Radikalinklusion – sind dann angesagt. Was daran gerecht sein soll, wenn Ungleiche gleichbehandelt werden? Jedenfalls werden die Schwächeren nicht stärker, wenn man die Starken bremst.

Zweitens gehören dazu ein pädagogischer Machbarkeitswahn und ein materialistisch-technizistisches Verständnis von Bildung. Der junge Mensch wird auf seine „materiellen“ Tatsachen reduziert – frei nach Lenin: „Der neue Mensch wird gemacht!“ Mit Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) meint man sogar, die „wissenschaftliche“ Bestätigung für die grenzenlose Manipulier- oder Konditionierbarkeit zu haben, selbst wenn Pawlow nur mit Versuchshunden experimentiert hatte. 1950 hatte Stalin gar die Parole ausgegeben, dass Pawlows Ideen die wissenschaftliche Grundlage des Marxismus seien. Heute glaubt man wieder, via Erziehung Schöpfer spielen zu dürfen. Wie wenn das Neugeborene eine „tabula rasa“ sei, auf dem Prägungen ohne Grenzen vorgenommen werden könnten. Wieder und wieder heißt es nicht nur in der marxistischen Pädagogik, Intelligenz und Schulerfolg seien ausschließlich determiniert durch das Milieu. Der Begriff „Begabung“ scheint „out“ zu sein. Wer von Begabung spricht, gilt als Biologist, ja Faschist. Der Behaviorist Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) hat aus dieser Attitüde heraus Lehr- und Lernprogramme entwickelt, die in den 1960er Jahren als „Programmierter Unterricht“ eine pädagogische Euphorie auslösten, aber bald in den Archiven verschwanden. Heute kehrt dieser Machbarkeitswahn wieder: als Neuropädagogik und Neurodidaktik. Gestützt wird der Machbarkeitswahn von einer Digitalisierungs-Euphorie, die so tut, als würde damit der neue Adam als „digital native“ (Naivling?) fit für die Zukunft gemacht.

Und damit man ja alles total im Griff hat, wird drittens die Verstaatlichung von Erziehung vorangetrieben – qua Ganztagsschule und mittels immer neuer Bindestrich-Erziehungen: Konsum-, Medien-, Freizeit-, Gesundheits-, Umwelt-Erziehung und anderes mehr. Das Elternhaus soll – weil Hort der Ungleichheit und des Widerstands gegen staatliche Zugriffe – aus der Verantwortung entlassen oder gar entmündigt werden.

Viertens schließlich der Kulturmarxismus einer offensiven Genderpädagogik: Eine der zu zerschlagenden „Strukturen“ war für die 68er ja die bürgerliche Ehe mit ihrer „heteronormativen Gewalt“, die es zu knacken gelte. Mit der Genderideologie wird diese Ehe zwischen Mann und Frau nun radikal und hochaktuell generell infrage gestellt, ja es wird postuliert, dass jeder/jede/jedes seine geschlechtliche Identität selbst bestimmen könne. Hier geht es um ein anderes Menschen- und Familienbild: das Menschen- und Familienbild eines „rosa Marxismus“ sozusagen. Das Ergebnis erleben wir in hochideologisierten, frühsexualisierenden amtlichen Richtlinien zur Sexualerziehung fast aller Bundesländer bis hinunter in die Kindergärten.

Die Hand reichen sich Neo-Marxismus und Neo-Kapitalismus vor allem in der Frage der Ganztagsschule. Den Marxisten geht es um Entmündigung der Eltern, den Kapitalisten um den ökonomischen Nutzen, den man zieht, wenn man Frauen in die Arbeitswelt kriegt. „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ heißt das dann. Vom Kind ist dabei nicht die Rede.

Und dann kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig Lippenbekenntnisse von wegen Gleichheit, Gerechtigkeit, klassenlose Gesellschaft und dergleichen absondern, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft samt OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an „Bildung“ soll – wie in „polytechnischer“ Bildung – messbar, nützlich, verwertbar sein. Der Mensch wird zum „Humankapital“ verdinglicht. Der bürgerliche Bildungskanon wird einer hohlen Pädagogik der „Kompetenzen“ geopfert. Das ist Neoliberalismus, ja Kapitalismus pur. Es hat sich dies übrigens schon lange vor Pisa angekündigt, durch Pisa aber noch verstärkt. 1961 hatte die OECD, die ja für die Pisa-Testerei und für das Kompetenzen-Geklingel verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“ Damit schließt sich der Kreis ursprünglich verfeindeter Ideologien.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
DDR Herbert Marcuse Josef Kraus Josef Stalin Sozialismus Wladimir I. Lenin Wolf Biermann

Weitere Artikel

Vor 100 Jahren formulierte Richard Coudenhove-Kalergi jene Vision, die einige Katastrophen später zur Einigung Europas führte. Der Paneuropa-Gründer selbst blieb ein privater Staatsmann.  
18.11.2022, 19 Uhr
Stephan Baier
Grün-linke Ideologie wird heute staatlich massiv gefördert. Zum Nachteil christlich-demokratischer und liberaler Werte.
13.01.2023, 15 Uhr
Deborah Ryszka
Carl Schmitt widmete dem Partisan eine eigene Schrift, die aktueller ist denn je.
21.05.2023, 19 Uhr
Holger Fuß

Kirche

Wegen Überfüllung geschlossen: 16000 Pilger aus 28 Ländern wandern am kommenden Wochenende zu Fuß von Paris nach Chartres.
28.05.2023, 13 Uhr
Franziska Harter
In der 56. Folge des Katechismuspodcasts mit der Theologin Margarete Strauss geht es um die Frage, wie der Mensch mit der Vorsehung zusammenarbeitet.
27.05.2023, 14 Uhr
Meldung
„Das war die Vorsehung!“ Aber was genau ist das eigentlich? Dieser Frage widmet sich Theologin Margarete Strauss in der 55. Folge des Katechismuspodcasts.
26.05.2023, 14 Uhr
Meldung
In der 54. Folge des Katechismuspodcasts geht es mit Theologin Margarete Strauss um die Schöpfungstätigkeit Gottes.
25.05.2023, 18 Uhr
Meldung
Historisch, theologisch, spirituell: Welche Aspekte laut "Premio Ratzinger"-Preisträger Ludger Schwienhorst-Schönberger eine zeitgemäße Bibelwissenschaft auszeichnen. 
27.05.2023, 17 Uhr
Ludger Schwienhorst-Schönberger