Am Anfang war die Pest. Ein Entrinnen gab es nicht. In den Ebenen nicht und nicht auf den Höhen. „War ihr kein Dorf zu elend zum Besuch, kein Bergkamm so verschrundet, dass sie über ihn nicht ihr verblattert Haupt hinaufgeschoben hätt' und dem nächsten Bergtal zugewendet“, beschrieb ein Heimatdichter das grausame Geschick. Wir befinden uns im Jahre 1632 n. Chr. Ganz Oberbayern ist von der Pest befallen ... Ganz Oberbayern? Nein! Ein von unbeugsamen Gebirglern bevölkertes Dorf hört nicht auf, der Geißel des Schwarzen Todes Widerstand zu leisten: Oberammergau. Kohlgrub, Ettal, Uffing, Eschenlohe ... die Orte in den unregelmäßig eintreffenden Katastrophennachrichten klingen wie Namen gefallener Festungen in dem Krieg, der in deutschen Landen seit 15 Jahren tobt und später als der Dreißigjährige die Geschichtsbücher bereichern wird.
Doch hier ist es keine marodierende Soldateska, die gemeines wie vornehmes Volk zerdirbt und zernichtet, sondern ein dem schlichten Verstand verschlossenes Verhängnis.
Noch ist das Dorf am Fuße des Kofel verschont von der Seuche. Tag und Nacht brennen auf den Bergen um Oberammergau die Feuer, an denen Wachen die Pässe versperren. Niemand soll herein, der die tödliche Saat in sich trägt. Doch einer kommt durch: Der Oberammergauer Kaspar Schisler, der sich in Eschenlohe als Knecht verdingte und den es zurück zu Frau und Kindern zieht. Und mit ihm zieht der Schwarze Tod, der nun auch unter den bislang Behüteten Ernte hält.
Indes – wie Friedrich Hölderlin 170 Jahre später in seiner Hymne „Patmos“ schreiben wird: „Wo aber Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch“. Der Zorn Gottes, der sich derart pestilenzisch nun auch im Tal der Ammer austobt, muss beschwichtigt werden. Mithilfe probater Praktiken der Volksfrömmigkeit in den von der Seuche zernierten Zonen werden die Hoffnungen auf Heil und Heilung genährt: Altäre, Kapellen, Kirchen zu Ehren von Schutzpatronen werden errichtet, Messen und Wallfahrten haben Hochkonjunktur. Die Oberammergauer setzen auf das besonders im Alpenraum tradierte Ritualtheater des Passionsspiels: die dramatische Inszenierung der Geschichte vom „Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“. Alle zehn Jahre, so der Beschluss der Dorfbewohner im Jahre des Herrn 1633, soll fortan ein solches Spektakel zum Lobe Gottes und damit zum Wohle der Gemeinschaft aufgeführt werden.
Die Wirkung ist durchschlagend: Nachdem die Pest 84 Menschen, einschließlich des unglückseligen Kaspar Schisler, dahingerafft hat, ist – so eine Chronik – „von dieser Zeit an kein einziger mehr gestorben, obwohl noch etliche Pestzeichen an sich hatten“.
Soweit die Legende. Die Oberammergauer hielten Wort. Das Gelübde ward Gestalt. 1634 gab es die erste Aufführung – auf dem Friedhof neben der Pfarrkirche, bei den Gräbern der Pesttoten. 2020 (1680 war das Spiel auf die Zehnerjahre verlegt worden) gibt es die zweiundvierzigste Aufführung – auf der Riesenrampe des modernsten theatertechnischen Ansprüchen genügenden Passionsspielhauses mit 4.500 Plätzen (mehr als doppelt so viele wie in Bayreuth). Der Ende des 19. Jahrhunderts errichtete rötlich-pastellfarbene Bau mit den Ausmaßen und dem Ambiente einer Bahnhofshalle ist der gesellschaftliche Mittelpunkt Oberammergaus, obwohl geografisch an den Ortsrand verrückt. Verrückt wie die Oberammergauer?
Es bestand durchaus die Gefahr, zu verstauben
Die fänden immerhin fast komplett Platz in ihrer immensen Immobilie. Und in der Tat findet sich alle zehn Jahre die halbe Einwohnerschaft an über hundert Tagen auf der 45 Meter breiten Bühne ein, um fünf Stunden lang (geteilt durch eine dreistündige Pause) vom Einzug Jesu in Jerusalem über Abendmahl und Verurteilung bis hin zu Kreuzigung und Auferstehung den legendären Leidensweg Christi zum ergreifenden Geschehen zu gestalten – mit einer Besessenheit und Begeisterung, einer Buntheit und Bewegtheit, einer Kunstfertigkeit und Kraftbeseeltheit, einer Tiefgründigkeit und Talentglanzbarkeit, die man getrost mit den Worten von Matthäus 5, 16 überschreiben kann: „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen ...“
Doch es gab Zeiten, da flackerte es arg, das Licht. Während die einen die reichlich altbackene Inszenierung und die zuletzt im 19. Jahrhundert bearbeiteten Texte mit ihren offenen und versteckten Antijudaismen als unantastbares Erbe sahen, sahen die anderen darin die Gefahr des Verlustes weltweiter Wertschätzung und des Absinkens einer mittlerweile für Oberammergau auch wirtschaftlich existenziellen Tradition zum verstaubten Krippenspiel.
Zu den anderen gehörte der Mann, der das Licht neu zum Strahlen brachte: Christian Stückl. Geboren 1961 in Oberammergau, wurde er 1987 vom Gemeinderat zum bis dato jüngsten Spielleiter gewählt. Für die Passion 1990. Der dann die Spiele 2000 und 2010 folgten. Und – nach erneuter Wiederwahl – werden es auch die im kommenden Jahr sein. Der inzwischen international renommierte Regisseur ist heute Intendant des Münchner Volkstheaters. Für die mehrfache Wahl zum Spielleiter hätte indes eine brillante Theaterkarriere nicht ausgereicht. Denn bei der Oberammergauer Passion mitmachen dürfen nur gebürtige Dorfbewohner oder vor mindestens 20 Jahren Zugezogene.
„Seht, ich mache alles neu“, heißt es in der Offenbarung des Johannes. Auch wenn Stückl solch anmaßenden Verweis auf die Bibel strikt ablehnen würde – nach der bislang dreifachen Passion Christians ist es für Freunde und Gegner, Optimisten und Zweifler, Publikum und Presse wahrlich offenbar: Er macht alles neu. Denn Tradition ist für Stückl „nichts Statisches, sondern muss immer wieder kreativ gerechtfertigt werden“. Das Bild der Bühne, die Komposition der Kostüme, die Malerei der Musik werden von ihm im Triumvirat mit Stefan Hageneier (Bühne, Kostüme) und Markus Zwink (musikalische Leitung) neuen ästhetischen Maßstäben anverwandelt.
Aber vor allem geht es Stückl um eine Generalrevision des Spiels, um die Befreiung der Gestalt Jesu von dem in Jahrhunderten aufgetragenen hagiografischen Firnis. „Wir haben völlig neue Szenen geschrieben, um Jesus von dieser Leidensgestalt wegzubringen, wie sie ja auch bei Mel Gibson in seinem Film ,Die Passion Christi' ganz extrem dominiert“, sagt mir der langjährige Spielleiter. „Jesus hatte eine große Idee von Vergeben und Versöhnen. Er wollte, dass die Menschen umdenken. Man kann Jesus nicht auf die Leidensgeschichte reduzieren, wie es die statische Betrachtung der Passionstradition fordert. Diese Tradition erzählt immer nur die letzten Tage im Leben Jesu. Wir haben versucht, neue Szenen wie die Bergpredigt einzubinden und so den Blick auf Jesus zu weiten und zu schärfen.“ Dazu gehört, dass Jesus, der einstens passiv-schweigend Duldende, bei den kommenden Spielen den umfangreichsten Textkorpus zu bewältigen hat.
Christian Stückl durchforstete die Texte mit dem Blick auf „eine ursprünglich zutiefst innerjüdische Geschichte, in der Jesus sich absolut als Jude begriff und all sein Denken dem Judentum entsprang“. Im Jahr 2000 gab es Passionsspiele zum ersten Mal ohne den Satz „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“. Gerade diese Textstelle aus dem Matthäus-Evangelium stand seit den 1960er Jahren in der Kritik internationaler jüdischer Organisationen an der Darstellung der Juden in Oberammergau. Denn mit dieser Selbstverfluchung, so die gängige Lesart, hatte die vor der Jerusalemer Residenz des Pontius Pilatus versammelte Volksmasse für das vom Statthalter Roms verhängte Todesurteil gegen Jesus die Verantwortung übernommen – als Jesusmörder. Was über Jahrhunderte zur Begründung von Diskriminierung, Verfolgung und Pogromen herhalten musste.
Dass man diesen Satz indes theologisch auch ganz anders deuten kann, zeigte Papst Benedikt XVI. im zweiten Band seines „Jesus von Nazareth“. Demnach ruft Jesu Blut, von dem die Rede ist, „nicht nach Rache und nach Strafe, sondern es ist Versöhnung“. Das Wort bedeute – „vom Glauben her gelesen“ –, „dass wir alle die reinigende Kraft der Liebe brauchen, die sein Blut ist. Es ist nicht Fluch, sondern Erlösung, Heil.“ Auf diese Weise, so Benedikt, „erhält das matthäische Blutwort seinen richtigen Sinn“. Eine komplexe Deutung. Zu komplex für die (Laien-)Bühne?
Ein muslimischer Judas und ein „Gott, der schreit“
Stückl sorgte auch dafür, dass jede katholisch-konfessionelle Einbindung fiel. Nachdem 1990 ein evangelischer Hauptdarsteller noch für Aufregung sorgte, ist Religion oder Nicht-Religion kein Kriterium mehr. Für die 2020er Spiele hat der Regisseur den Oberammergauer Muslim Abdullah Kenan Karaca als Zweiten Spielleiter berufen, der zudem den Juden Nikodemus spielt. Und Céngiz Görür, ebenfalls in Oberammergau geboren, ist der erste Muslim, der bei den Passionsspielen eine Hauptrolle übernimmt. Und zwar eine der begehrtesten: Judas. Was nicht bei allen Dorfbewohnern Begeisterung auslöst. „Es gibt Leute, die mich dafür hassen“, sagt Stückl. Er fordere „die Oberammergauer gern bis zur Schmerzgrenze“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. Aber Stückl weiß auch um diese Grenze und konstatiert nach seiner jüngsten Casting-„Eskapade“: „Man muss nun die Balance halten.“
Eine Balance, die angesichts schwindender Religiosität und steigender Ökonomisierung der Oberammergau-Passion immer auch auf den tradierten Urquell verweisen muss: auf ein Brauchtum, das erwuchs aus der Kraft des Glaubens, das die Jahrhunderte überdauerte mit der Kraft des Glaubens und das diesen Glauben immer wieder erstarken und erneuern half. Es ist nicht nur Theater.
„Wir brauchen einen Gott, der schreit!“ Beziehungsreich ertönt dieser Ruf im Stück „Die Pest“, das in diesem Sommer traditionell im Vorjahr der Passion aufgeführt wurde, um an die Wurzeln des Werdens dieser jahrhundertealten Oberammergauer Tradition zu erinnern: Ein düsteres Spektakel, in dem vor schwarzer Kulisse Fackeln und Feuer lodern und kraftvolle Charaktere in plastischen Bildern die dämonische Drastik der Pestzeit illustrieren.
Manchmal, wenn auf der Bühne Stille herrschte, konnte man Töne hören, denen vor dieser Kulisse etwas Transzendentes eignete: das Gurren von Tauben, die den semisakralen Bau für ihre Nistplätze auserkoren haben. Ein profanes Problem. Doch gilt die Taube seit alters her als Inkarnation des Heiligen Geistes. Schon über Jesus hat sie geschwebt – bei seiner Taufe durch Johannes im Jordan: Er „sah, dass sich der Himmel auftat, und den Geist gleich wie eine Taube herabkommen auf ihn“ (Joh 1, 32). Ein verheißungsvolles Zeichen für das umtriebige Dorf in den Ammergauer Alpen?
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