Nach der Sintflut der Tsunami

Die „Respektrente“ von Arbeitsminister Heil treibt einen Keil zwischen die Generationen. Von Jürgen Liminski
Die SPD will die Bedürftigkeit bei der Grundrente kippen.
Foto: dpa | Die SPD will die Bedürftigkeit bei der Grundrente kippen. Dann hat auch die Unternehmersgattin Ansprüche.

Die SPD hat den Wahlkampf eröffnet. Ihr Sozialpaket geht weit über die Abmachungen aus dem Koalitionsvertrag hinaus und zielt damit auf eine Wählerklientel, die unter dem Plakattitel „Mehr soziale Gerechtigkeit“ die Sozialdemokraten aus dem Umfragekeller holen soll. Es geht nicht nur um die nächste Bundestagswahl, sondern auch die Europawahl, die Kommunal- und die Landtagswahlen. Und da mehr als die Hälfte aller Wähler über 55 Jahre alt ist, liegt es nahe, vor allem die Rente zu thematisieren. In dieser Altersgruppe sind auch die meisten SPD-Wähler zu finden.

Mit der Rente 63 und der Mütterrente haben die Großkoalitionäre das Rententhema schon ziemlich ausgeschöpft. Jetzt also die „Respektrente“ von Sozialminister Hubertus Heil. Sie soll die Grundrente aufbessern und zwar so, dass sie höher liegt als die Grundsicherung, die derzeit von 544 000 Rentnern in Anspruch genommen wird. Die Grundsicherung bekommen auch die, die nicht in die Rente eingezahlt haben und dass die Bezieher von Grundsicherung gleiches Geld bekommen wie die Bezieher von Grundrente, die jahrzehntelang eingezahlt haben, ist offenkundig ungerecht. Deshalb fordern alle Parteien hier eine Reform der Grundrente – schon vor dem Hintergrund der seit Jahren anschwellenden Diskussion um Altersarmut – und deshalb steht dieses Thema auch schon in den früheren Koalitionsverträgen, natürlich unter anderen Namen.

2009 hieß es Lebensleistungsrente, 2013 dann, nachdem nichts geschehen war, „solidarische Lebensleistungsrente“. Das war eine Kombination aus dem SPD-Begriff der „Solidarrente“ und der „Lebensleistungsrente“ der Union. Daraus wurde dann 2017 die „gesetzliche Solidarrente“ der damaligen Sozialministerin Andrea Nahles, die auch im Entwurfsstadium steckenblieb und nun als Heils „Respektrente“ wieder auf dem Tisch liegt.

Heils Plan unterscheidet sich von seinen Vorgängern und auch von den Rentenplänen der FDP und der Union allerdings in einem wesentlichen Punkt: Er verlangt keine Prüfung der Bedürftigkeit. Im Koalitionsvertrag ist diese Prüfung aber vorgesehen. Ohne Bedürftigkeitsprüfung dürfte die Zahl der potenziellen Bezieher jedoch in die Millionen gehen und damit die Kosten in die Milliarden treiben. Heil schätzt die Anspruchsberechtigten auf drei bis vier Millionen und die Kosten auf fünf Milliarden Euro. Über der Gegenfinanzierung liegt dichter Nebel. Die Steuerzahler sollen es richten, meint Heil. Aber ob über die Steuer oder die Sozialabgaben, die Jungen zahlen auf jeden Fall die Zeche. Hier treibt Heil einen Keil zwischen die Generationen. Gerecht ist das nicht. Und angesichts der sinkenden Wirtschaftsleistung und damit künftiger Steuerausfälle, sowie der deutlichen Kritik aus dem Unionslager decouvriert sich Heils Respektrente vollends als nicht realisierbar in dieser Legislaturperiode – und damit als respektabler Auftakt für die nächsten Wahlen.

Die Genese der Respektrente – vielleicht sollte man besser von Anamnese sprechen – zeigt indes auf, dass hier ein Problem weitergeschoben wird, das schon lange erkannt wurde. Und zwar schon sehr lange. Es hat mit der demografischen Entwicklung zu tun und die wurde auch jahrzehntelang ständig auf die lange Bank geschoben. Das fing schon an unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Als die Bundestags-Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ Mitte der achtziger Jahre ihre Ergebnisse dem CDU-Kanzler auf den Tisch legte, schob der mit spitzen Fingern die zwei dicken Volumina beiseite. Im Präsidium seiner Partei gefragt, was man denn nun tue solle, um das Rentensystem zu sichern, weil es ja in wenigen Jahrzehnten weniger Beitragszahler und mehr Rentner gäbe, da sagte er: Nichts. Denn alles berühre die Machtfrage. Leistungen zu kürzen bringe die Alten auf, Beiträge zu erhöhen die Jungen. Man verliere in jedem Fall Wähler. Und das Problem stelle sich sowieso erst wirklich in dreißig Jahren, wenn die Babyboomer in Rente gingen. Also nach uns die Sintflut. Jetzt ist die Sintflut da. Inzwischen wurde viel gebastelt und reformiert, ein Demografie-Faktor eingeführt und von Rot-Grün wieder abgeschafft, das Rentenniveau gesenkt und Garantiegrenzen eingezogen. Das Ergebnis: Die Altersarmut kommt näher, mittlerweile liegen 45 Prozent der ausgezahlten Nettorenten unter dem Niveau der Grundsicherung. Dass dennoch nur drei Prozent der knapp 18 Millionen Rentner Grundsicherung beantragen, liegt vor allem daran, dass die meisten noch über andere Einkommensquellen verfügen und deshalb nicht wirklich bedürftig sind. Sei es, dass der Partner eine gute Rente hat, sei es, dass man Mieten kassiert oder aus Reserven wie Ersparnisse, Aktien, Versicherungen schöpft.

Die Altersarmut kommt näher

Wenn nun die Bedürftigkeitsprüfung entfällt, dann wird die Ehefrau/Lebensgefährtin des Unternehmers oder Arztes die Respektrente beantragen. Die Sintflut wird zum Tsunami. Hinzu kommen willkürliche Bestimmungen. So muss man 35 Jahre lang eingezahlt haben, um die Respektrente beantragen zu können. Es kann aber sein, dass jemand 35 Jahre eingezahlt hat und nun fast die gleiche Rente bekommt wie jemand, der auch 35 Jahre, aber wesentlich weniger eingezahlt hat. Oder was ist mit dem, der nur 34 Jahre lang und sogar höhere Beiträge geleistet hat?

Es geht hier um mehr als Detailfragen. Richtig ist: Das Rentensystem bedarf einer grundlegenden Reform. Aber der Maßstab darf nicht die Willkür am grünen Tisch oder gar die Wählerstruktur sein, sondern primär die Arbeitsleistung des Einzelnen, sekundär seine Bedürftigkeit. Das wäre Politik nach dem Maß der Gerechtigkeit. Und das ist das Maß, an dem sich Politik generell zu orientieren hat, auch bei der Rente.

Themen & Autoren
Andrea Nahles Europawahlen FDP Helmut Kohl Hubertus Heil Landtagswahlen SPD Soziale Gerechtigkeit Tsunamis

Weitere Artikel

Die Schleswig-Holstein-Wahl hat bisher als sicher geltende Trends widerlegt. Ob diese Gegenbewegung aber von Dauer ist, wird schon der Urnengang in NRW zeigen.
12.05.2022, 07 Uhr
Sebastian Sasse
Offiziell träumt Bundeskanzler Olaf Scholz von einer "Gesellschaft des Respekts". Doch wie deckt sich das mit der politischen Wirklichkeit?
02.02.2023, 17 Uhr
Deborah Ryszka
Vor zehn Jahren wurde die „Alternative für Deutschland“ gegründet – und wurde nach den "Grünen" zu Deutschlands erfolgreichster neuer Partei. Wie kam es dazu?
12.02.2023, 17 Uhr
Werner J. Patzelt

Kirche

Wer Untersuchungen behindert, macht sich nun kirchenrechtlich strafbar. Ebenso legt Franziskus Verfahrensverläufe und Zuständigkeiten fest.
26.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Indem es für sie Partei ergreift, fällt das Moskauer Patriarchat der „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche“ in den Rücken.
25.03.2023, 11 Uhr
Stephan Baier
Die Debatte um Johannes Paul II. hat für einige Überraschungen gesorgt. Wie geht es nun weiter?
24.03.2023, 11 Uhr
Stefan Meetschen