Désinvolture ist nicht nur eine charakterliche Disposition, sondern sie kann sich auch durch exzessive Lektüre einstellen das war die These des ersten Teils dieses Versuchs. Nun mag sich diese These auf den ersten Blick selbstverständlich, ja banal anhören. Denn wer kennt nicht jenes lesende Versinken in einen Text, wobei man der Welt mehr und mehr abhandenkommt? Aber dieses Schmökern allein erzeugt noch keine Désinvolture, denn irgendwann taucht man aus dem Text wieder auf, und die Probleme der Welt sind immer noch da, und zwar ebenso bedrängend, wenn nicht sogar bedrohlicher als zuvor. Désinvolture ist keine Flucht, sondern ein Verlassen der Gravitationssphäre des Alltags. Gelassenen Abstand zum Geschehen, der sich sogar als eine Form der Wirklichkeitsverachtung ausprägen kann, setzt zudem einen Lektüregegenstand voraus, der diesen spöttischen Blick auf die Realität lehrt.
Herausfordernde Lektüre
Ich hatte mir während des ersten Corona-Jahres unter anderem vorgenommen, die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon von der ersten bis zur letzten Seite im altfranzösischen Original zu lesen, die schon lange im Regal auf mich warteten. Bei einem Gesamtumfang von rund 10.000 Seiten ergab das ein Lektürepensum von ungefähr 30 Seiten pro Tag, was zunächst als leicht machbar erschien, sich aber vor allem aufgrund der vielen – vor allem genealogischen – Hintergründe, die es nachzuschlagen galt, als eine Herausforderung darstellte. Im Schnitt benötigte ich für eine Seite Originaltext schließlich 6 Minuten, was zu einer täglichen Lektürezeit von mindestens drei Stunden führte.
Aber das sind nur die quantitativen Aspekte dieser Leseexpedition auf einen Lektüre-8000er. Viel wichtiger sind deren qualitativen Gesichtspunkte. Der Herzog von Saint-Simon, dessen Werk Marcel Proust sehr bewunderte, nahm keine wichtige Rolle am Hof Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. ein. Er hatte weder ein politisches noch ein militärisches Amt inne. Vielmehr bewegte er sich als relativ freier Beobachter am Hof und hatte zahlreiche Zuträger, die ihm Informationen über die unmittelbare Umgebung des Königs und seiner Entourage zutrugen, die er gewissenhaft aufzeichnete. Seine literarische Kunst besteht darin, Tausende solcher Mosaiksteinchen zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammenzufügen und dies in einem Stil, der vielen bis heute als eine der ausdrucksstärksten, klarsten und spannungsreichsten der französischen Sprache gilt.
„Saint-Simon kommentiert das alles,
als würde er Szenen eines riesigen Theaterspiels betrachten,
bei dem er im Publikum einen Logenplatz einnimmt“
Je weiter seine Memoiren fortschreiten, desto deutlicher wird jene Haltung der Ungezwungenheit, mit der er über Ereignisse und Personen urteilt während sich auf dem gesellschaftlichen, politischen und immer auch auf dem militärischen Parkett die Erbfolgekriege sind im vollen Gang Dramatisches ereignet: Armeen werden aufgerieben, Kältewellen überziehen das Land und verursachen Hungersnöte, eiskalte Intrigen und geschickt eingefädelte Kabale bringen Minister und Feldmarschälle zu Sturz – Saint-Simon kommentiert das alles, als würde er Szenen eines riesigen Theaterspiels betrachten, bei dem er im Publikum einen Logenplatz einnimmt.
Man hat den Eindruck, als sei es der Schreibprozess selbst – jenes reflektierend-ordnende Festhalten der vorüberziehenden Schemen und Schatten des Lebens –, der diese Désinvolture erst hervorbringt. Die Feder wird zu einem Instrument, mit dem die Geschehnisse und auch die eigenen Emotionen eingegrenzt und gleichsam domestiziert werden. Die schreibende Hand ist auch eine Waffe gegen Betroffenheit: Der Herzog lässt kaum einen Blick in sein Inneres zu. Er vermeidet die Schilderungen von Gefühlen und Sentimentalitäten, wächst aber zugleich auch über jene bloße Haltung den Widrigkeiten des Lebens gegenüber hinaus, die einen Adligen des Ancien Regime ohnehin auszeichnete.
Gesellschaftsentwicklungen als Modelleisenbahnlandschaft
Was geschieht bei diesem Prozess mit dem Leser? Erstaunliches: Hat man anfangs noch damit zu kämpfen, die genealogischen Kreuz- und Querverweise und die vielen politischen Ämter und komplizierten Gepflogenheiten am Hof des Sonnenkönigs, die eine vertrackte Grammatik des Hoflebens bilden, zu verstehen, so wird einem nach spätestens 500 Seiten klar, dass es bei dieser Lektüre gar nicht darum geht, Geschichte zu verstehen, und schon gar nicht darum, Fakten aufzunehmen. Natürlich sinniert Saint-Simon ausführlich über Handlungsoptionen und Motivationen seiner Protagonisten und auch über das Schicksal Frankreichs, das von ihnen abhängt, aber viel mehr ist ihm daran gelegen, die Mechanismen und Stereotypen ihres Tuns sichtbar zu machen, ihre Schwächen und Abhängigkeiten aufzuzeigen und in ihre diversen düsteren Abgründe zu blicken. Der Leser, der sich diesem Blick ausliefert und dem es gelingt, sich in diese Perspektive einzufügen, sich an diesem Blick festzusaugen und ihn schließlich zu seinem eigenen zu machen, stellt dann fest, wie klein die historischen Kulissen werden, wie sie auf das Format einer Modelleisenbahnlandschaft zusammenschmelzen – so klein, dass man über sie, wie Saint-Simon es immer wieder tut, lächelt, auch wenn das, was er schildert, Züge einer dämonischen Welt annehmen kann, die bisweilen an Dostojewski erinnert.
Jener hartnäckige Leser Saint-Simons ist nun in der glücklichen Lage, seine lesende Haltung als Rezipient eines historischen Textes mit seiner realen Situation als Individuum einer konkreten gesellschaftlichen Krisensituation zu überblenden und behände von der einen auf die andere Seite zu wechseln. Es entsteht ein perspektivisches Vexierspiel, in dem Markus Söder auf einmal mit einer gepuderten Perücke und Kniestrümpfen einherstolziert und Angela Merkel an die universelle Strippenzieherin Madame de Maintenon erinnert, die in ihrem Kabinett still und heimlich Weltgeschichte fabriziert. Wer hat eigentlich behauptet, dass Demokratie und Monarchie sich widersprechen?
Der Blick von „draußen“ auf das „Ganze“
Wenn man morgens liest, mit welcher Eleganz die Schreibfeder Saint-Simons den Sturz des großen und eminent Intrige-begabten Vend me zu einer Arabeske des Lebens umgestaltet, dann kann man sich abends weiß Gott nicht über abermals gestiegene Corona-Inzidenzzahlen echauffieren oder über das Für und Wider der Impfpflicht räsonieren. Der desinvolte Leser übernimmt jene Optik der Distanz aus dem Akt der Lektüre hinüber in denjenigen der Betrachtung der eigenen Lebenswirklichkeit und liest schließlich die gesellschaftliche Realität wie einen Text Saint-Simons. Diese Umformung des Lebens in einen Text ist nur in zweiter oder dritter Linie eine Ästhetisierung. In erster Linie haben wir es hierbei mit einer eleganten Methode der Autoimmunisierung gegen Informationsüberfülle und Meinungschaos zu tun, die den Eindruck erwecken, als würden wir in der schlechtesten aller möglichen Welten leben.
Der Blick der Désinvolture hat auch nichts zu tun mit jener pragmatischen Komplexitätsreduktion oder dem damit verbundenen Aufruf zur universellen Resilienz, den die politischen Fürsten und Mediziner uns nahelegen. Die Komplexität einer Welt in Aufruhr lässt sich nicht auf Optionen reduzieren, ohne Wesentliches dabei aufzugeben. Und Resilienz ist ein viel zu oft gebrauchtes Modewort, dessen depressive Schattenseiten noch viel zu wenig ergründet wurden. Saint-Simon lehrt einen, wie man sich herauswinden kann aus dem Sog des Katastrophismus, ohne die Katastrophe zu verleugnen, die diesen erzeugte.
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