
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat das Rentenkonzept der Großen Koalition vorgestellt – und schon heult die Wirtschaft auf. Man mag über einzelne Punkte und Details streiten. Aber aus der Wirtschaft kommen grundsätzliche Beschwerden: Die Rente, insbesondere die Mütterrente, kostet Geld. Was denn sonst? Jahrzehntelang hat die Wirtschaftselite von der kostenlos erbrachten Familien- und Erziehungsarbeit der Mütter profitiert, die dieser Elite erzogene, das heißt ausdauernde, fleißige und lernfähige Arbeitnehmer lieferten. In der Regel hatten diese noch Gerechtigkeitssinn, waren bescheiden und ehrlich. Das kann man nicht von allen DAX-Vorständen sagen. Jetzt sollen diese Mütter um die paar Groschen gebracht werden, die ihre karge Altersrente dem Armutsruch entheben soll.
Es geht um rund 32 Euro pro Kind und Monat. Aber nicht jede Mutter bekäme mehr, nur wer drei und mehr Kinder vor 1992 geboren hat. Das beträfe fast jede vierte Rentnerin. Nach dem Entwurf des Arbeitsministers beliefen sich die Gesamtkosten auf 3,4 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist eine Summe, über die Politiker lächeln, wenn es um Banken, Griechen oder Flüchtlinge geht. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft argumentiert scheinheilig mit einer angeblich künftigen Schieflage der Generationengerechtigkeit; die jüngeren Generationen hätten die Zeche zu zahlen. Das zeigt ein doppeltes Versagen bei der Betrachtung des Rentensystems: Zum einen fällt diese jüngere Generation nicht vom Himmel, sind es ja gerade die Eltern, vorwiegend die Mütter, die diese jüngere Generation in das Erwerbsleben führen. Zum zweiten missverstehen die kapitalistisch denkenden Funktionäre das Rentensystem an sich. Es geht nicht um eine Rentenkasse, aus der jeder das bekommt, was er eingezahlt hat. Denn die Erwerbsbevölkerung zahlt immer die Renten, weil das Umlagesystem nicht wie eine Lebensversicherung funktioniert, sondern die Renten aus den laufenden Beiträgen finanziert werden. Außerdem wird über kurz oder lang wegen der demografischen Entwicklung der Steuerzuschuss zur Rentenkasse sowieso steigen. Das aber betrifft dann alle, auch die Rentner, die Steuern zahlen.
Kritik kommt natürlich nicht nur von den Wirtschaftsverbänden, sondern auch von der Rentenversicherung und aus der Opposition. All die Kritik offenbart, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Einstellung zur Familie und zur Leistung der Mütter radikal geändert hat. Das Wirtschaftsdenken überlagert alles, der„homo oeconomicus“ hat über den „homo sapiens“ gesiegt. Wer redet heute in der Politik noch von der Leistung der Mütter? Allenfalls in der CSU und in der AfD ist davon die Rede, in den früheren Volksparteien CDU und SPD schweigt man sich dazu aus, von der FDP war dazu nie viel zu hören und die Grünen denken heute sowieso nur an bestimmte Randgruppen. Das war früher nicht so. Ein Blick in die Grundsatzprogramme zeigt es. Zum Beispiel das Grundsatzprogramm der CDU von Ludwigshafen aus dem Jahr 1978. Da heißt es: „Jedes Kind hat ein Recht auf seine Familie, auf persönliche Zuwendung, Begleitung und Liebe der Eltern, denn die Entwicklung des Sprach- und Denkvermögens, personale Eigenständigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit, Wert- und Verantwortungsbewusstsein hängen wesentlich von der Erziehung in der Familie ab. Diese Zuwendung kann den Kindern meist nur dadurch gegeben werden, dass die Mutter in den ersten Lebensjahren ihres Kindes auf die Ausübung eines Erwerbsberufes verzichtet. Wenn sich die Mutter dieser Aufgabe in der Familie voll widmet, darf sie nicht wirtschaftlich, gesellschaftlich, rechtlich oder sozial benachteiligt werden. Dies gilt in gleicher Weise für den Vater, wenn er diese Aufgabe übernimmt. Ein Erziehungsgeld und die rentensteigernde Berücksichtigung von Erziehungsjahren sind daher unabdingbar.“ Beides, das Erziehungsgeld und die Berücksichtigung von Erziehungsjahren bei der Rente, wurde übrigens eingeführt und die Begründung galt auch für das Betreuungsgeld, das dann von den Grünen ohne nennenswerten Widerspruch aus der Merkel-CDU als Herdprämie diffamiert wurde.
Aber die Grünen formulierten in ihrem Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1980 ähnliche Gedanken wie die CDU damals: „Die Mütter oder Väter, die sich aus erzieherischer Verantwortung überwiegend ihren Kindern widmen, gegebenenfalls unter Verzicht auf die Ausübung ihres Berufes, leisten eine Arbeit von größter gesellschaftlicher Bedeutung. Damit die spätere Entwicklung des Kindes ungestört verlaufen kann, sollte in den ersten Jahren möglichst kein Wechsel der Bezugspersonen stattfinden. Darum fordern wir entsprechende Angebote hauswirtschaftlicher und pädagogischer Ausbildung und ein Erziehungsgehalt.“ Das muss man sich bewusst machen: Das Zitat stammt aus dem Bundesprogramm der Grünen, nicht der CSU noch der CDU oder der Familienpartei oder sonst einem Familienverband. In der Rückschau erscheinen diese Zeilen wie aus einem Märchenbuch entnommen. Es war einmal…
Natürlich hat auch die Kirche grundsätzlich zu diesen Fragen Stellung genommen, in Deutschland tut sie es leider nicht (mehr). Im Kompendium der Soziallehre der Universalkirche aber ist zu lesen: „Die Festigkeit der Kernfamilie ist eine entscheidende Grundlage für das soziale Zusammenleben, und deshalb kann die Zivilgemeinschaft gegenüber den zersetzenden Tendenzen, die ihre eigenen tragenden Stützen untergraben, nicht gleichgültig bleiben. [...] Daher ist es notwendig, dass sich die öffentlichen Autoritäten diesen Tendenzen mit ihren zersetzenden Wirkungen auf die Gesellschaft und ihren Schäden für die Würde, Sicherheit und das Wohl der einzelnen Bürger entschieden widersetzen; sie sollen sich bemühen, dass die öffentliche Meinung nicht zu einer Unterbewertung der Institutionen von Ehe und Familie verleitet werde.“ Nun, genau das ist der Fall. Die Mütterrente II schafft ein Stück Gerechtigkeit; es ist reine ökonomische Willkür, aus Kostengründen nur einem Teil der Mütter drei Erziehungsjahre anzurechnen und einem anderen Teil nur zwei. Hier geht es nicht um eine Meinungsdifferenz. Hier geht es um soziale Gerechtigkeit. Freilich, man kann sich fragen, ob die Große Koalition die Mütterrente II aus Gründen der Gerechtigkeit einführen will oder weil diese Altersgruppe zu ihrer Wählerschaft gehört. Es wäre unfair, ihr nur wahltaktische Motive zu unterstellen.
Dennoch ist die Diskussion symptomatisch. Sie spiegelt eine Geisteshaltung, die in den letzten Jahrzehnten für die marktwirtschaftlich orientierte Welt typisch geworden ist. Es ist, als ob das Ende des Sowjetkommunismus das kapitalistische Denken entfesselt und ethische Begründungen hinweggespült hätte. Für die Kapitalisten in Amerika definiert Edward Luttwak, einer der angesehensten Autoren in den USA („Weltwirtschaftskrieg“ und „Turbo-Kapitalismus“), die entfesselte Geisteshaltung so: „In den USA herrscht ein säkularisierter Calvinismus, im übertragenen Sinne also der Glaube, dass der Wert des Menschen von seinem wirtschaftlichen Erfolg abhängt.“ Viel Geld, viel Ehr. Auch in Deutschland scheint das zum Maßstab zu werden. Zwar wird hier viel vom Zusammenhalt der Gesellschaft geredet und lamentiert. Aber die familienferne Politik und die Funktionäre in Wirtschaft, Gewerkschaft und vielfach auch in den Kirchen kommen nicht auf das Naheliegende. Die Zerstörung des Sozialen, der „Ligaturen“ der Gesellschaft, wie Dahrendorf es nennt, produziert seither nicht nur weltweites, reales Unbehagen an der Globalisierung, das Konkurrenzdenken der Markwirtschaft durchdringt den sozialen und auch privaten Raum. Das hat zur Folge, dass Familie, Gemeinde, Staat und Gesellschaft oft nur noch als Faktor und Masse für die Inanspruchnahme eigener Wünsche gesehen werden. Der homo oeconomicus herrscht, „die heroische Gesinnung erstickt“, wie schon der Vater der Wirtschaftswissenschaften, Adam Smith, in seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ in seiner Analyse des kapitalistischen Denkens bemerkte. Wie erstickend der Kapitalismus sein kann, zeigt wiederum Luttwak auf. „Die fehlende wirtschaftliche Stabilität produziert Angst und diese trägt Spannungen in die Familien und bringt die Gesellschaft durcheinander. Inzwischen enden über 50 Prozent aller Ehen in den USA in Scheidung – landesweit. Wo der Turbo-Kapitalismus voll funktioniert, an der Wall Street oder in Silicon Valley, beträgt die Scheidungsrate fast hundert Prozent. Dort verlangt das System so viel Energie und Zeit von den Leistungsträgern, dass sie sich nicht mehr um Beziehungen kümmern. So atomisiert der Turbo-Kapitalismus die Gesellschaft mehr und mehr.“
Vor diesem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Entwicklung sind Maßnahmen wie die Mütterrente kein Relikt vergangener Zeiten. Sie stehen für die Anerkennung einer Arbeit und Leistung. Anerkennung erfahren junge Mütter heute fast nur noch, wenn sie geldwerte Leistungen vollbringen. Gerade darin besteht ja die Krankheit heutiger Formen der Anerkennung, dass sie überwiegend nur in Geld aufgewogen wird. Das Ergebnis des Familienmanagements und der Erziehung lässt sich schwer in Arbeitsstunden und Mindestlöhnen fassen. Es sind Gemeinsinn, Toleranz, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Treue, Verantwortung – alles Tugenden, wovon Gesellschaft, Staat und Wirtschaft leben. Solche Tugenden machen den Zusammenhalt der Gesellschaft aus. Wenn junge Mütter keine Anerkennung für diese schwer messbare Leistung erfahren, darf man sich nicht wundern, dass sich immer mehr junge Frauen trotz ihrer natürlichen Sehnsucht nach Kindern und Familie immer öfter gegen Familie entscheiden, um nur dem Erwerbsberuf und der damit verbundenen Anerkennung nachzugehen.
Für die Gesellschaft ist das fatal. „Die Familie lehrt“, so Papst Franziskus in einer Botschaft an die Päpstliche Akademie für das Leben, „nicht dem Individualismus zu verfallen, sondern das Ich mit dem Wir ins Gleichgewicht zu bringen. In der Familie wird die „Sorge für den anderen“ zu einer Grundlage der menschlichen Existenz und zu einer sittlichen Haltung, die gefördert werden muss durch die Werte des Engagements und der Solidarität“. Die Groschen der Mütterrente, des früheren Erziehungsgeldes und des späteren Betreuungsgeldes, sind solche Zeichen der Solidarität. Und des Engagements für eine gerechtere Gesellschaft. Natürlich wäre im Sinne der Gerechtigkeit viel mehr nötig, etwa ein Erziehungslohn wenigstens in Höhe der Krippenkosten. Mit solchen Groschen wie der Mütterrente aber ist Staat zu machen. Oder um es noch einmal mit Papst Franziskus zu sagen: „Die Familie ist wichtig, ist notwendig für das Überleben der Menschheit. Wenn es keine Familie gibt, ist das kulturelle Überleben der Menschheit in Gefahr. Ob wir es mögen oder nicht: Die Familie ist die Grundlage.“ (in Rio de Janeiro am 27. Juli 2013)