Der nun schon mehr als zwei Jahre andauernde Krieg um Syrien ist längst eine große humanitäre Katastrophe, und droht nicht erst – wie die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Montag meinte – zu einer solchen zu werden. Hunderttausend Menschen haben ihr Leben verloren, Millionen ihr Haus, ihre Heimat und ihre wirtschaftliche Existenz. Betroffen ist das ganze Volk, in besonderer Weise aber jene ethnischen und religiösen Minderheiten, die dem Chaos und der Gewalt schutzlos ausgeliefert sind. Der Krieg um Syrien ist darüber hinaus eine politische Katastrophe, die auch die Nachbarländer – insbesondere den Libanon und Jordanien – nachhaltig beschädigt. Er ist weiter eine ökonomische Katastrophe, die die ohnedies arme Region des Vorderen Orients noch abhängiger macht von den durch Erdöl reich gewordenen Potentaten der arabischen Halbinsel.
Der Krieg um und in Syrien ist aber auch eine kulturelle Katastrophe. Darauf hat die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, die UNESCO, in der Vorwoche bei ihrer Jahrestagung in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Phen hingewiesen. Sechs syrische Orte, die laut der UNESCO-Liste zum Weltkulturerbe zählen, wurden nun in das Verzeichnis des bedrohten Weltkulturerbes aufgenommen: die Altstädte von Damaskus, Aleppo und Bosra, die Ruinen von Palmyra sowie die Kreuzritterfestungen von Krak des Chevaliers und Qalat Saladin. Gemeinsam ist all diesen Orten nicht nur, dass sie vor dem März 2011 frei besichtigt und bewundert werden konnten. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie nicht bloß staunenswerte Stätten einer fernen, fremden Kultur sind, sondern den Geist von Morgenland und Abendland, von Orient und Europa atmen.
Das ist für den Geschichtskundigen wenig erstaunlich, war doch die Levante – und damit auch Syrien – bereits in der Antike ein fester Bestandteil des fruchtbaren Kulturraumes im östlichen Mittelmeer. Für die Phönizier wie für Perser, Griechen und Römer war das Meer keine Grenze, sondern eine große Straße, auf der sich Waren und Kulturen bewegten. Nach der Schlacht von Issos 333 gehörte das heutige Syrien zum eurasischen Weltreich Alexanders des Großen. Für die Römer waren die Ränder des „mare nostrum“ wichtiger als die kalten Weiten Nordeuropas: 64 vor Christus schuf Pompeius die römische Provinz Syria. Auf die Herrschaft Roms folgte mit der Reichsteilung 395 die Herrschaft des Neuen Roms, der Stadt Konstantins, über den Vorderen Orient. Macht man Europas Identität an den von Theodor Heuss beschriebenen drei Hügeln fest, also an der Prägung durch die Akropolis (sinnbildlich für die griechische Philosophie und ihren Personalismus), durch das Kapitol (stellvertretend für das römische Rechts- und Staatsdenken) sowie durch Golgatha (als Schicksalsort des Christentums), dann kann man ohne Zweifel sagen: Syrien gehörte früher und intensiver zum Kulturkreis Europas als die Landstriche Nord- und Nordosteuropas.
Erst im siebten Jahrhundert wurde Syrien aus dem europäischen Kulturkreis herausgebrochen durch die arabische Eroberung. Damaskus war zwar ein Jahrhundert lang die strahlende Metropole des islamischen Weltreichs der Omajjaden, bevor die Abbasiden ihre Residenz nach Bagdad verlegten. Doch es war plötzlich abgeschnitten von der Entwicklung, die wir als unsere kennen und die zu dem führte, was Europa genannt wird. Aus dem Miteinander wurde ein Neben- und Gegeneinander. Was sich zunehmend fremd wurde, wurde sich schließlich auch feindlich. In den Kreuzzügen, deren Geschichte beiderseits bis heute von neuzeitlichen Mythen überlagert ist, und endlich – nach vier Jahrhunderten osmanischer Herrschaft (1516 bis 1918) – ab dem 19. Jahrhundert, als Staaten Europas ihre Hände nach dem Orient auszustrecken begannen. Es waren Briten und Franzosen, die am Ende des Ersten Weltkriegs die Grenzen im Nahen Osten neu zogen: Frankreich, die Schutzmacht der libanesischen Maroniten, hielt die Kontrolle über Syrien und den Libanon, Britannien herrschte in Palästina und Transjordanien.
In der Türkei muss man an der laizistischen und an der islamischen Schicht fest kratzen, damit die darunter liegende christliche Farbe Kleinasiens zum Vorschein kommt. In Syrien jedoch liegen diese Schichten offen sichtbar nebeneinander. Das verdankt das Land seinen hochaktiven, vitalen Christen vieler Konfessionen und Riten. Es wird aber auch in Bauwerken sichtbar. Damaskus zählt mit Aleppo, Jericho und Byblos zu den ältesten durchgehend besiedelten Städten der Welt. In seiner Altstadt, die UNESCO-Weltkulturerbe ist, gibt es ein christliches Viertel, Bab Touma, wo der Besucher nicht nur Bischöfen, Priestern und Ordensleuten unterschiedlicher Konfession begegnen kann, sondern auf den Spuren des Völkerapostels Paulus wandelt. Die Hananias-Kapelle, wo der (laut östlicher Tradition) erste christliche Bischof von Damaskus den Paulus heilte und taufte (Apostelgeschichte 9), ist nur wenige Meter von der Paulus-Kirche an der alten Stadtmauer entfernt, die an die Flucht des Völkerapostels aus der Stadt erinnert. Zur Zeit Pauli gab es hier bereits eine große christliche Gemeinde, im 4. Jahrhundert dann eine christliche Mehrheit.
Das kulturelle wie spirituelle Juwel der Stadt allerdings ist die Omajjaden-Moschee, und dies durchaus auch für Christen. Sie ist keineswegs nur ein prachtvolles Beispiel früher islamischer Architektur, sondern auch der Sukzession von Kultstätten. Vor ihrem Westeingang sind noch die Säulen und Giebelreste des antiken Jupiter-Tempels zu sehen, der hier einst stand und einen aramäischen Haddad-Tempel verdrängt hatte. Im 4. Jahrhundert wurde unter Kaiser Theodosius daraus eine christliche Basilika, die Johannes dem Täufer geweiht wurde und in dem sein Haupt verehrt wurde. Ja, in dem es bis heute verehrt wird, denn auch die Muslime verehrten Johannes – wie Moses, Abraham und Jesus, dem eines der Minarette der Omajjaden-Moschee gewidmet ist – als Propheten. So pilgern auch in unserer Zeit Scharen persischer Schiiten zunächst ins syrische Maalula, wo sie sich in der Sergius-und-Bacchus-Kirche das „Vater unser“ auf Aramäisch, in der Muttersprache Jesu, vorbeten lassen, und dann nach Damaskus, wo sie am Schrein Johannes des Täufers beten.
Als die muslimischen Eroberer 635 Damaskus einnahmen, beanspruchten sie zunächst nur eine Halle der Johannes-Basilika als Moschee. Erst nach 70 Jahren friedlicher christlich-islamischer Koexistenz war die Zahl der Muslime so gewachsen, dass der Kalif das Gebäude ganz in Anspruch nahm und ausbaute. Den Christen gab er – und dies auf dem Zenit des „goldenen Zeitalters“ des Islam – zum Ausgleich mehrere Kirchen. Heute ist nicht nur die Altstadt von Damaskus mit ihren Kirchen und Moscheen gefährdet, sondern auch das friedliche Nebeneinander, ja mitunter sogar Miteinander von Christen und Muslimen, das in Syrien in den vergangenen Jahrzehnten der Assad-Diktatur erstaunlich gut funktionierte.
Als „Diamant der Wüste“ und „Perle des Morgenlands“ wurde das heute umkämpfte Damaskus lange gerühmt. Von Mohammed heißt es, er habe sich auf einer Karawanen-Reise beim Anblick der Obstgärten und Kanäle in den Vororten von Damaskus geweigert, in diese Stadt hineinzuziehen, um nicht „vor dem himmlischen Paradies ein anderes, irdisches zu betreten“. Jedenfalls gilt Damaskus nach Mekka, Medina und Jerusalem als viertheiligste Stadt des Islam. Dies gilt für Sunniten ebenso wie für Schiiten, die die Gebeine des Märtyrers Hussein Ibn Ali und die seiner Tochter Rokajja hier verehren. Aber doch auch für Christen, die hier auf den Spuren Johannes des Täufers, des Paulus, der heiligen Thekla und vieler frühchristlicher Märtyrer pilgern.
Auf eine lange und bewegte Geschichte kann auch die nordsyrische Metropole und Handelsstadt Aleppo, die ewige Konkurrentin von Damaskus, blicken. Amoriter, Assyrer und Hethiter siedelten hier. Ein Jahrtausend vor der Gründung Roms war „Halab“ – in der Antike „Jamchad“ genannt – bereits Residenzstadt eines Königreiches. Ibn Battuta, der Mitte des 14. Jahrhunderts weite Teile Afrikas und Asiens bereist hatte, pries Aleppo als „schönste und größte Stadt, die ich je gesehen habe“. Auch in der Altstadt von Aleppo, die 1986 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden war, gab es bis zum Wüten des aktuellen Krieges ein eigenes Christenviertel, wo sich die Kirchen von elf verschiedenen Konfessionen finden. Der weltgrößte überdachte Basar wurde Ende September 2012 ein Opfer der Kampfhandlungen.
Im Südwesten Syriens, an der Grenze zu Jordanien, liegt das UNESCO-Weltkulturerbe Bosra, bereits im 1. Makkabäer-Buch als große Stadt erwähnt und Residenzstadt nabatäischer Könige. Zur römischen Kaiserzeit war Bosra ab dem Jahr 106 Sitz der Legio III Cyrenaica und Hauptstadt der Provinz Arabia, ab etwa 300 auch „Metropolis“ und ein bedeutender Bischofssitz. An ihre römische Geschichte erinnert neben den Thermen und einer Säulenstraße das atemberaubende Römische Theater, das im 2. Jahrhundert in eine nabatäische Burg gebaut wurde. Es bot einst 15 000 Zuschauern Platz und beeindruckt bis heute mit seiner Akustik. An die christliche Geschichte der Stadt erinnert eine frühchristliche Kirche aus dem 4. Jahrhundert, aber auch die 512 den Heiligen Sergius, Bacchus und Leontius geweihte Kathedrale, in der ein auf 181 datierter Altar des Zeus entdeckt wurde, und die Grundmauern des anschließenden Bischofspalais. Nördlich der Kathedrale liegt die Buheira-Basilika, wo Mohammed mit seiner Karawane Halt gemacht hat. Hier soll er nach islamischer Überlieferung den nestorianischen Mönch Buheira (Bahira) getroffen haben, der Mohammed eine prophetische Rolle vorausgesagt haben soll. Sicher ist jedenfalls, dass Mohammed auf seinen Karawanenreisen mit dem christlichen Glauben in nähere Berührung kam und einiges davon erfuhr – ganz sicher auch hier in Bosra.
Zum bedrohten Weltkulturerbe erklärte die UNESCO in der Vorwoche auch eine der imposantesten Ruinenstätte des Mittelmeerraumes: Palmyra, 240 Kilometer nordöstlich von Damaskus in der syrischen Wüste gelegen. Bereits im Neolithikum, also vor rund 9 000 Jahren, war dieser Ort besiedelt, wurde in altassyrischen und babylonischen Texten erwähnt. Die Römer bezeichneten diese wichtige Oase auf der Handelsroute vom Mittelmeer in den fernen Osten als Palmyra, „Stadt der Palmen“ – eine simple Übersetzung des vorgefundenen altsemitischen Namens Tadmor. 129 nach Christus kam Kaiser Hadrian hierher und gewährte Palmyra die Steuerhoheit. Caracalla machte sie zur steuerbefreiten Metropole. Diokletian ließ hier 297 ein Heerlager zur Sicherung der Ostgrenze seines Reiches errichten, doch die Blüte Palmyras war da bereits vorbei. Heute, nach fast neun Jahrzehnten archäologischer Bemühungen, beeindrucken der Baals- und spätere Jupiter-Tempel, der Hadriansbogen, die Kolonnadenstraße, der Tempel des Nabo und die Reste der Thermen des Diokletian, aber auch das Tal der Gräber.
Erst im Jahr 2006 hat die UNESCO die Kreuzritterburg Krak des Chevaliers zum Weltkulturerbe erklärt. Diese imposante Festung im Westen Syriens, am Rande des Libanongebirges, erinnert an den ersten Kreuzzug, auf dem Raimond von Saint-Gilles auf dem Weg nach Jerusalem hier eine längere Rast einlegte und zu diesem Zweck die muslimische Befestigungsanlage eroberte. Ab 1142 residierte hier der Johanniterorden, der die Anlage so befestigte, dass selbst der legendäre Sultan Saladin sie 1188 monatelang vergebens belagerte. Der Speisesaal, der Lange Saal, die Türme und Mauern, aber vor allem die bis heute beeindruckende Burgkapelle verbinden sichtbar gotische Schönheit mit mittelalterlicher Wehrhaftigkeit. Erst 1271 mussten die Johanniter die Festung – nach vier Jahren der Belagerung und erbitterter Kämpfe – den Mameluken überlassen. Der Sultan gewährte den Rittern freies Geleit bis zur Küste, unter der Bedingung, dass sie die Levante verlassen. Nach der Übernahme von Krak des Chevaliers wurde die Burgkapelle sofort zur Moschee umgewandelt. Der Orden aber emigrierte auf die Insel Zypern. Dass dieses immer wieder umkämpfte, wohl schönste Symbol der Kreuzritterzeit nun im Vorjahr bei Kämpfen zwischen der syrischen Armee und den Rebellentruppen neuerlich das Opfer von Plünderungen und Zerstörungen wurde, mag ein Bild für die Schicksalsstunden sein, die der gesamte Orient derzeit erlebt und erleidet.
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