Soziale Medien

Wie TikTok uns beeinflusst

Sogenannte „Ästhetiken“ bestimmen, was auf TikTok viral geht. PR–Strategen passen sich an.
Mühle des künstlichen Schäferdorfs, das Marie Antoinette erbauen ließ
Foto: Wikimedia Commons | Die Mühle des künstlichen Schäferdorfs, das Marie Antoinette erbauen ließ, um dem höflichen Leben zu entfliehen. Heute sind Eskapismus und Weltflucht unter dem Online-Trend „Cottagecore“ wieder in.

Bei dem Wort „Ästhetik“ stellt man sich oftmals etwas Schönes aus der Kunst vor, Michelangelos David zum Beispiel. Oder man denkt an eine philosophische Abhandlung, die grundsätzlich nach der Natur des Schönen fragt. Von dem altgriechischen aisthesis, das „Wahrnehmung, Empfindung“ bedeutet, hat „Ästhetik“ sich heute besonders als Begriff für die Wahrnehmung des Schönen eingebürgert.

Im Netz hat das Wort, das als „Aesthetics“ aus dem Englischen entliehen wurde, allerdings einen neuen Gebrauch gefunden. Es bezeichnet online ein bestimmtes Flair, einen bestimmten Stil, ja, ein bestimmtes Lebensgefühl, das sich Internetnutzer als Leitlinie für ihre Identität online wie offline zu eigen machen können. Diese Aesthetics entstanden und verbreiteten sich über Webseiten und Apps, die das Sammeln und Zusammenstellen von Bildern, Musik oder Videos ermöglichen, zum Beispiel Instagram.

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Cottagecore: Weltflucht ist schwer angesagt

Ins Blickfeld der Mainstream-Kultur gerieten die Aesthetics mit der Veröffentlichung von Taylor Swifts Album „Folklore“. Die US-amerikanische Sängerin und Songwriterin wurde ursprünglich mit Country-Musik bekannt, bevor sie ins Popgenre überwechselte. Während sie sich wegen der Pandemie in Selbstisolation befand, schrieb sie das Album „Folklore“, das statt Pop dem Indie-Genre zuzurechnen ist, und das Kritiker und Fans jenem Aesthetic zuordneten, das seit Beginn der Pandemie das Internet beherrschte: „Cottagecore“.

Der Begriff setzt sich aus dem englischen Wort „Cottage“ („Hütte“ oder „Haus“, meist am Meer oder in Dörfern), und dem Suffix „–core“ („Kern“) zusammen, und steht für Eskapismus, Nostalgie und Rückzug in eine idyllische Natur. Swift ist auf dem Album-Cover einsam im Wald dargestellt; im Musikvideo zum Titellied „Cardigan“ findet sie in einer verlassenen einsamen Hütte einen Zugang zu einer märchenhaften Welt mit Wasserfällen und grünen Wiesen, die sie barfuß erkundet.

Spürbare Wirkung in der Musikindustrie

„Folklore“, das zum meistverkauften Album 2020 avancierte, wurde von Kritikern wie Fans zum „perfekten Lockdown-Album“ erklärt, und nicht von wenigen zum „perfekten Cottagecore-Album“. Die Aesthetics wurden so spürbar zu einem neuen Faktor in der Musikindustrie. Das geht Hand in Hand mit dem Einfluss, den die App TikTok mittlerweile auf die Musikindustrie hat.

Die App spornt Nutzer dazu an, Videos nachzuahmen, die meistens auf einem bestimmten Song basieren – wenn ein solches Videoformat mit einem Song viral geht, dann geht auch das Lied viral. Paradebeispiel dafür ist der Rapper Lil Nas X, dessen Song „Old Town Road“ 2019 einen TikTok-Trend lostrat und den Platz 1 der Charts unter anderem in Australien, Kanada, Frankreich, Deutschland und den USA erreichte.

„Für Künstler wird es immer wichtiger, Lieder, Hooks und Aesthetics zu kreieren,
die eine Aussicht darauf haben, auf TikTok viral zu gehen“

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Künstler stehen deshalb auch unter Druck, Inhalte zu generieren, die auf TikTok trenden könnten, weil sie mit einer bestimmten „Challenge“ verbunden ist, die viele Nutzer nachahmen können. Für Künstler wird es immer wichtiger, Lieder, Hooks und Aesthetics zu kreieren, die eine Aussicht darauf haben, auf TikTok viral zu gehen. Auch in der Filmindustrie lassen sich die Spuren der Aesthetics wiederfinden. „Dark Academia“ (etwa „düstere akademische Welt“) nennt sich ein Trend, der viktorianisches Mystery und klassisch britisches College-Leben vereint. So wie Cottagecore von bekannter Bildsprache wie Tolkiens Auenland zehrt, kann sich Dark Academia auf die kulturell etablierten Bild- und Gedankenwelten von Harry Potter oder der britischen Serie „Sherlock“ stützen.

Gegenwind erhielt die im Januar 2021 zum ersten Mal auf Netflix ausgestrahlte Serie „Fate – The Winx Saga“, eine Neuauflage der Zeichentrickserie „Winx Club“ aus den frühen 2000ern. Dort lernt eine Gruppe von Feen, die eine Feenschule besuchen, ihre Kräfte im Umgang mit typischen Teenagerproblemen umzugehen. Im Original ist der Ton der Serie locker, die Farben sind hell und leuchtend, die Feenschule hat ein filigranes Design im Jugendstil. Die Neuauflage von Netflix hingegen überzieht alles mit einem düsteren, grauen Filter, und die Feenschule erinnert deutlich mehr an Hogwarts als an das Schloss aus der Originalserie. Auf diesen Trend zielen auch Produktionen wie „The Chilling Adventures of Sabrina“, „Enola Holmes“, „Riverdale“ oder „The Queen‘s Gambit“ an – mal mit besserer, aber auch oft mit schlechterer Umsetzung.

Durchaus mit gewisser Ironie

Denn ähnlich wie Cottagecore hat Dark Academia mit dem Problem der Oberflächlichkeit und Widersprüchlichkeit zu kämpfen. Cottagecore ruft zur Flucht in die Natur, weg von überfüllten Social-Media-Feeds: Aber natürlich existiert das Aesthetic nur online. Vergleichbar ist dieses Phänomen mit Marie Antoinettes Schäferdörfchen, das sich die Königin in Versailles erbauen ließ, um dort die bukolische Idylle armer Leute genießen zu dürfen.

Auch wenn sich TikTok-Nutzer filmen, wie sie im Tweed-Jackett Tee trinken und Tolstoi lesen, entbehrt das natürlich nicht einer gewissen Ironie. Die Aesthetics verbinden Identität mit einer recht oberflächlichen Abstraktion von Bildern und Ideen, die aus Kulthits bekannt sind – und sprechen so eine breite Masse an. Tatsache ist, dass diese Trends, die teils auf undurchsichtigen Algorithmen und teils auf der Selbstdarstellungswut junger Social-Media-Nutzern basieren, zum Faktor für Musik- und Filmindustrie geworden sind.

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Sally-Jo Durney John Ronald Reuel Tolkien

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