"Nicht wir haben die Wahrheit, sondern die Wahrheit hat uns“, pflegte der kürzlich verstorbene Papst Benedikt XVI. zu sagen. Doch wer seit geraumer Zeit den Blick gerade durch die sogenannten Sozialen Medien beziehungsweise Netzwerke schweifen lässt, dem droht vor lauter „alternativer Fakten“ und mutwilliger Störung eines geordneten, offenen Diskurses ganz schwindelig zu werden.
Wider den großen Wahrheitscrash
„Woher wissen wir, was wir wissen?“, fragt der US-Journalist Jonathan Rauch in seinem neuen Buch – denn die Antworten darauf sind aus seiner Sicht enorm wichtig für eine funktionierende Gesellschaft – geschweige denn für eine lebendige Demokratie. Rauch, geboren in Phoenix, Arizona und Absolvent der Yale University, gehört zur mittlerweile selten gewordenen Sorte jenes Journalistentypus, der, wie Rauch selbst in seiner unter anderem für den „Economist“ oder den „Atlantic“ getätigten journalistischen Arbeit unter Beweis stellt, sich weigert, sich auf lediglich eine Seite des politischen Spektrums zu schlagen. Und so tritt er in „Die Verteidigung der Wahrheit“ sowohl rechtsextremen als auch links-woken Wahrheitsgegnern und Diskursverengern gehörig auf die Füße.
Rauchs Befund der gegenwärtigen Social-Media-Debattenkultur ist zwar nicht zwingend originell, aber dennoch zutreffend: Auf der „rechten" Seite des Internetdiskurses verbreiten sogenannte Trolle reaktionäre Propaganda und Fake News im Netz – und „links" sorgt die woke, sogenannte Cancel-Culture-Fraktion dafür, dass nicht nur an Universitäten der offene Diskurs über sensible Themen wie „Gender" zum Verstummen gebracht werden soll. Für Propagandaexperten ist klar – und Rauch rekapituliert deren Erkenntnisse in seinem Buch –, dass die Auftritte des jeweiligen radikalisierten Onlinemobs als Taktiken in einem Informationskrieg bezeichnet werden können: Denn Vertreter beider Seiten manipulieren das gesellschaftliche und mediale Umfeld, um politischen Nutzen für sich ziehen zu können und zielen hierbei bewusst auf kognitive und emotionale Schwachstellen der zu Beeinflussenden ab.
Die Wahrheit verteidigen
Dieser zumeist offen gegen Fakten und Gewissheiten gerichtete Aktionismus führt laut Rauch nicht nur zur Diskreditierung jener Regeln, welche eine unabhängige Wissenschaft definieren und eine realitätsbasierte Gemeinschaft organisieren, sondern letztendlich, nach einem Übergang über ein Stadium „gefühlter Wahrheiten“, in die sich die Vertreter der rivalisierenden politischen Spektren einzurichten drohen, zu vollständig wahrheits- und erkenntnisunfähigen Gesellschaften.
In „Die Verteidigung der Wahrheit“ erläutert Jonathan Rauch, was aus seiner Sicht zu tun ist, um die Wahrheit beziehungsweise die Fähigkeit, Wissen und Erkenntnis zu erlangen, zu verteidigen. Dabei erinnert er nicht nur an die 1690 gegründete, allererste US-amerikanische Tageszeitung „Publick Occurences“, auf deren Titelseite geschrieben stand: „Damit etwas getan werde zur Kurierung oder zumindest Zähmung jenes Geistes der Lüge, der unter uns herrscht, soll hier nichts Eingang finden als das, von dem wir mit gutem Grund annehmen, dass es wahr ist. Und wenn in dem, was hier zusammengetragen wird, sich der geringste sachliche Fehler zeigt, so soll er korrigiert werden.“
Mit Platon zur Wahrheit- und Erkenntnisfähigkeit
Denn Rauch blickt zudem auf die Geschichte des kritisch-rationalen Denkens westlich-abendländischer Prägung, welches für ihn nicht mit Immanuel Kant, Karl Popper oder den ansonsten ebenfalls häufig von ihm zitierten schottischen Aufklärern David Hume oder Adam Smith beginnt, sondern bereits mit Platon.
Dessen philosophischer Dialog „Theaitetos“ zieht sich wie ein roter Faden durch Rauchs Überlegungen: Eben jener Dialog, in welchem Sokrates sich gemeinsam mit dem titelgebenden Jüngling die Frage stellt, worin Erkenntnis besteht und wie man gesichertes Wissen von wahren, aber unbewiesenen Behauptungen unterscheidet – ein augenscheinlich hochaktuelles Thema. Im Verlauf des Dialogs entwickeln und verwerfen Sokrates und Theaitetos zahlreiche Vorstellungen dessen, was allgemeingültig als „Wahrheit“ oder „Erkenntnis“ gelten kann – wie zahlreiche Dialoge Platons endet auch dieser in Aporie, in Unentschiedenheit. Doch sowohl Platons Sokrates als auch Rauch selbst halten dieses Dialogende für keine schlechte Sache: Denn genauso wie Sokrates dem enttäuschten Jüngling versichert, dass beide wenigstens nun darin klarer sähen, was sie eben nicht wüssten, ist Rauch der festen Überzeugung, dass auch ein scheinbar gescheitertes Gespräch Menschen der Wahrheit näherbringen könne als jegliche Diskursverweigerung beziehungsweise das Torpedieren eines auf Wahrheit ausgerichteten Gesprächs.
Deswegen stellt für Rauch der Satz des Sokrates „Morgen, aber Theaitetos, wollen wir uns hier wieder treffen“ nicht nur die wichtigste Aussage des ganzen Dialogs, sondern auch eine Blaupause für den offenen Diskurs dar: Der Dialog um Wahrheit und Erkenntnis wird beziehungsweise darf niemals an sein Ende geraten. Deswegen plädiert Jonathan Rauch für einen stärkeren juristischen Schutze der freien Meinungsäußerung, der auch im Arbeitsrecht seinen Niederschlag finden müsse: Personen, die im Internet angegriffen werden, müssten vor Jobverlust stärker geschützt werden. Zudem tritt Rauch für ein starkes zivilgesellschaftliches Aufstehen gegen jegliche Formen der Fake News und Cancel Culture ein: Als Vorbild dient ihm der 2020 erschienene und von 150 Autoren, darunter J.K. Rowling, Noam Chomsky und Margaret Atwood,unterschriebene Brief, der sich unmissverständlich gegen Cancel Culture aussprach.
Jonathan Rauch, Die Verteidigung der Wahrheit – Fake News, Trolle, Verschwörungstheorien und Cancel Culture. S. Hirzel Verlag, Stuttgart, 2022, 416 S., ISBN 978-3-7776-3230-8, EUR 28,--
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