Rolle der Medien

Ist der „Cursor-Journalismus“ auf dem Vormarsch?

In ihrem Bestseller „Die vierte Gewalt“ warnen Harald Welzer und Richard David Precht vor einem verengten Meinungskorridor in den Medien. Zurecht?
Richard David Precht beim NDR
Foto: IMAGO | Der Philosophieautor Richard David Precht (Foto) kritisiert gemeinsam mit dem Soziologen Harald Welzer die Medien. Doch stimmen deren Vorwürfe?

Was Putin erreichen will, ist Zweifel zu wecken. Zweifel am Sieg, Zweifel an unserer Fähigkeit, zu verteidigen, wofür wir stehen. Zweifel sind wie Erosion – sie tragen Vertrauen und Hingabe ab.“ Mit dieser Botschaft wandte sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kürzlich an seine Amtskollegen aus Deutschland und Tschechien, Annalena Baerbock und Jan Lipavsky. Weil im Nachgang der Panel-Diskussion auf dem Prager „Forum2000“ dann allein ein im Zuge einer russischen Kampagne entkontextualisierter Patzer Baerbock (siehe DT vom 29. September) die Runde machte, traf die Botschaft Kulebas in Deutschland ins Leere.

Dabei enthält das vom ukrainischen Außenminister bemühte Erosionsgleichnis den Schlüssel für eine in den deutschen Medien seit geraumer Zeit kontrovers geführten Diskussion. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen der Soziologe Harald Welzer und der Philosophieautor Richard David Precht, deren neues Buch „Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ mit einer fünfstelligen Startauflage begann und dennoch vom Verlag S. Fischer bereits nachgedruckt werden musste. Kein Wunder, da schließlich sowohl Precht als auch Welzer als regelmäßige Talkshow-Gäste gelten, worauf ihre Kritiker gerne genüsslich verweisen.

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Hohe Talkshowpräsenz ohne Relevanz für die These

Über ihre Thesen sagt das Argument der Talkshow-Präsenz der Autoren jedoch freilich wenig aus: Anders als durch prominente, laute Stimmen können die berühmten Schweigespiralen, von denen die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann einst sprach, schließlich nicht durchbrochen werden. Doch herrscht in Deutschland tatsächlich eine medial bekräftigte Schweigespirale, wenn es um den russischen Krieg in der Ukraine geht? Im Gespräch mit dem „medium magazin“ implizieren Welzer und Precht dies zumindest.

So erzählt Welzer im Interview von einer „wiederkehrende[n] Beobachtung, die dann aber einen Auslöser bekommen hat mit der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg und der Umgangsweise mit kritischen Stimmen bzw. auch mit der Absenz von kritischen Stimmen in der leitmedialen Berichterstattung und Kommentierung“. Daraufhin habe er gedacht: „Nein, zur Demokratie gehört es essenziell dazu, dass Menschen versuchen zu überlegen: Mit welcher Situation hat man es zu tun? Was kann man erwägend kritisch dazu einbringen?“ Weiter betont er: „Der wohlmeinende Streit um richtige Perspektiven ist das Herz der Demokratie.“

„Gleichsam, (...) , muss die Öffentlichkeit stärker nicht nur über russische Propagandastrategien,
sondern auch über die strategische Bedeutung des Zweifels im Informationskrieg,
wie Kuleba sie treffend darstellte, aufgeklärt werden“

Precht erklärt zudem, dass die Ukraine-Berichterstattung das Autoren-Duo „schon sehr stark verwundert“ habe, weil beispielsweise bei der Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine „eine große Diskrepanz zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung“ bestanden hätte. „So etwas kann es einmal geben, darf es auch einmal geben, aber bei diesem Thema gibt es das sehr dauerhaft“, schließt Precht. Der Begriff „Cursor-Journalismus“, den Precht und Welzer einführen, meint laut dem Interviewer Köksal Baltaci, „dass die meisten Journalisten je nach wehendem Zeitgeist einen ähnlichen Standpunkt vertreten, also eine vergleichbare Positionierung haben, und zumeist auch die gleichen Themen behandeln“. Eine eigentlich nicht allzu neue, sogar unterkomplexe Diagnose:

Dass das „Herz des Journalismus“ links schlägt, argumentierte bereits Christian P. Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig, unpolemisch, analytisch und gleichsam konkreter als Precht und Welzer in einem Beitrag für das Europäische Journalismus-Observatorium (EJO): „Das Berufsfeld selbst, aber auch die kommunikationswissenschaftliche Forschung könnte einen wertvolleren Beitrag zur Analyse und Überwindung mancher Dysfunktionen des (digitalen) öffentlichen Diskurses leisten, wenn der Widerwille gegen eine für sich genommen wenig erstaunliche empirische Erkenntnis fallengelassen würde“, so das nüchterne Fazit Hoffmanns damals.

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Precht und Welzer machen es sich zu einfach

Doch Precht und Welzer geht es nicht um einen etwaigen linken Bias der deutschen Medien, sondern vielmehr um eine fundamentale Medienkritik: Auch verläuft die Achse politischer Positionierungen in der Debatte um den russischen Krieg genauso wie in jener um die Corona-Pandemie nicht mehr zwischen links und rechts. Das zeigten Parteien wie die Grünen und die AfD, die jeweils lang gehegte Positionen, einerseits die Abrüstung und andererseits die Aufrüstung der Bundeswehr nach der russischen Invasion geradezu miteinander getauscht hatten.

Allerdings begehen Precht und Welzer einen Fehler, wenn sie die Diskussionen um Russlands Angriffskrieg einfach in eine Reihe mit vorangegangenen Diskussionen, wie jener um die Corona-Maßnahmen stellen. Denn der Krieg verhält sich zur Information wie in der marxistischen Theorie der Kapitalismus zu allem und jedem, den er zum Tauschobjekt, zur Ware macht – im digitalen Zeitalter werden Informationen im Krieg wiederum zu Waffen, immer und zwangsläufig. Ein Umstand, den die Demokratie nicht leugnen darf, sondern dem sie sich vielmehr stellen muss. Tut sie das nicht, läuft sie in Gefahr, sich in den eigenen Widersprüchen zu verheddern und so angreifbar zu machen.

Der Zweifel darf nicht ausgeblendet werden

Wenn Harald Welzer von „wohlmeinende[m] Streit um richtige Perspektiven“ spricht, so drängt sich das Bild eines freien Marktes konkurrierender Ideen auf. Mag dieses demokratische Idealbild in Friedenszeiten eine durchaus ehrenwerte Vorstellung darstellen, ist die Wirklichkeit in Kriegszeiten komplizierter. Denn statt eines freien Meinungsaustausch mit gleichberechtigten, wenigstens grundsätzlich am Gemeinwohl orientierten Diskussionspartnern, geht der Meinungsaustausch im Krieg immer auch, zumindest ein Stück weit, mit der Verbreitung von Narrativen der einen oder anderen Seite einher.

Umso mehr, da hier eine Seite – die russische - danach trachtet, die andere ihres Gebiets und ihrer Souveränität zu berauben und um ihr Ziel zu erreichen auch bewusst auf das öffentliche Bewusstsein in Ländern einwirkt, die sie daran hindern könnten. Wer nun wie der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer für Verständnis für die russische Perspektive wirbt und zum Beispiel die NATO-Ost- und Norderweiterung, zu der sich jene europäische Nationen damals aus freien Stücken entschieden, die seit Jahrhunderten mit russischem Imperialismus zu kämpfen haben, als westlichen Eroberungsfeldzug darstellt, der stützt, ob er es will oder nicht, russische Narrative, während er zentral-, ost- und nordeuropäische Narrative und Erfahrungen herunterspielt.

Demokratisches Ideal contra Kriegsrealität

Hier kollidieren demokratische Ideale mit der digitalen Kriegsrealität. Was nur soll die Demokratie tun, wenn sie dies nicht leugnen darf, sondern sich dem vielmehr stellen muss? In einem Beitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“ fordert der Journalist Oliver Maksan mehr Respekt für die Kritiker der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine ein. Die „sozialen Kosten der abweichenden Meinung“ würden „von den Hofreiters, Melniks und aktivistischen Akademikern derzeit massiv in die Höhe getrieben“. Wenn Maksan Vorwürfe kritisiert wie jenen Hofreiters, dass der Politikwissenschaftler Johannes Varwick nach „Putins Drehbuch“ agiere, dann hat er damit grundsätzlich recht. Auch und gerade in Kriegszeiten muss auf zwischenmenschlicher genauso wie auf gesellschaftlicher Ebene ein respektvoller Tonfall in der Debatte gewahrt werden.

Im schlimmsten Falle vollenden solche Vorwürfe nämlich sogar das Destabilisierungs- und Spaltungswerk Russlands, das gezielte Polarisierung längst als Mittel der Zersetzung für sich entdeckt hat: Je nach politischer Lage des Ziellandes warb der Propagandasender „Russia Today“ so in der Vergangenheit wahlweise für oder gegen Migration. Gleichsam, und das bleibt im „NZZ“-Artikel unerwähnt, muss die Öffentlichkeit stärker nicht nur über russische Propagandastrategien, sondern auch über die strategische Bedeutung des Zweifels im Informationskrieg, wie Kuleba sie treffend darstellte, aufgeklärt werden. Sich gegen die genannten Gefahren zu wappnen statt sich vor jedem Zweifel und jeder Debatte abzuschirmen, muss der Anspruch einer resilienten Demokratie sein.

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