Echte Verbrechen

Ist das großer Mordsspaß?

“True Crime“-Formate sind beliebt. Dennoch hat das Genre seinen Höhepunkt überschritten.
Netflix-Serie «Tiger King: Murder, Mayhem and Madness»
Foto: Netflix | Noch halten schrille True-Crime-Formate wie „Tiger King: Großkatzen und ihre Raubtiere“ ihre Fans in Atem.

Kaum ein Unterhaltungs-Genre ist derzeit so populär wie „True Crime“. An den Zeitungsständen sowie auf Streaming-Plattformen wie Spotify oder Netflix findet man zahllose Formate, in denen echte Verbrechen rekonstruiert, dramaturgisch aufgearbeitet und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Große Medienhäuser wie „Die Zeit“, aber auch zahlreiche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten setzen auf „True Crime“. Vom gedruckten Magazin bis hin zum Podcast – das Angebot ist immens.

Mit Orson Welles ging in den 1950er Jahren alles los

Man fragt sich, warum wahre Verbrechen so viele Menschen faszinieren – die US-amerikanische Psychologin F. Diane Barth weiß hierauf einige Antworten. In einem Meinungsartikel für die Internetseite von „NBC News“ berichtet die New Yorker Psychologin von einer ganzen Bandbreite an psychologischen Gründen, die zum „True Crime“-Konsum führen.

Diese reichen von der bloßen Neugierde über das Schicksal anderer Menschen über vermeintliche präventive Lebenshilfe, die man sich durch das Hören solcher Podcasts erhofft, falls man selbst einmal Opfer eines Verbrechens werden sollte, bis hin zu Verbrechensopfern selbst, die interessanterweise aufgrund der Schwemme an True-Crime-Podcasts und der darin geschilderten Verbrechen das Gefühl haben, nicht mehr alleine mit ihren Erfahrungen zu sein. Eine Patientin – so schildert es Barth – höre die Podcasts jedoch noch aus einem ganz banalen Grund: Nämlich, um schlicht und einfach gut einschlafen zu können.

„Die Folge ist, dass es mitunter reißerischer zugeht
und verzweifelt versucht wird, in irgendeiner Form aufzufallen“

Egal, aus welchem Grund man sich wahren Verbrechen widmet: Neu ist dieses Mediengenre nicht. Denn die Geschichte des „True Crime“ reicht mindestens bis in die 1950er Jahre zurück. Und egal, ob es sich um bahnbrechende Entwicklungen in den Bereichen Film, Radio und TV handelt – ein Name taucht in diesem Zusammenhang immer wieder auf: Orson Welles.

This is Orson Welles, speaking from London“, knisterte es ab 1951 aus den Radiogeräten, während im Hintergrund die Glocken des Big Ben in London läuteten. Die Begebenheiten, die der „Krieg der Welten“- und „Citizen Kane“-Macher in der Show „The Black Museum“ schilderte, basierten auf Mordwaffen und Gegenständen, die mit Verbrechen in Verbindung gebracht und vom Scotland Yard im Kriminalmuseum „Black Museum“ ausgestellt wurden. Zwar entsprach das Erzählte nicht immer in Gänze den tatsächlichen Ereignissen und Welles präsentierte das Ganze recht atmosphärisch, doch True Crime-Elemente waren bereits zum damaligen Zeitpunkt ein essenzieller Bestandteil des Formats.

Es begann mit journalistisch gutem Handwerk

Es dauerte knapp zwei Jahrzehnte, bis „True Crime“-Formate schließlich im Fernsehen zu sehen waren. Dieses Mal war der deutsche Öffentlich-rechtliche Rundfunk Vorreiter. Mit „Aktenzeichen XY… ungelöst“ startete das ZDF 1967 eine Sendung, die sich bis heute in der TV-Landschaft festsetzte und auch international adaptiert wurde. Moderator Eduard Zimmermann stellte in der von ihm selbst konzipierten Sendung ungeklärte Straftaten in Form von filmischen Rekonstruktionen vor, in denen bekannte deutsche Schauspieler wie Robert Atzorn, Marion Kracht oder Miroslav Nemec Auftritte hatten.

Auch 2021 wird „Aktenzeichen XY … ungelöst“ noch zwölfmal im Jahr ausgestrahlt. Mit bis zu diesem Zeitpunkt 569 regulären und 21 Spezialausgaben zählt die Sendung zu den populärsten in der deutschsprachigen TV-Landschaft. Der Mehrwert von „Aktenzeichen“ ist es, Verbrechen mit Hilfe der Zuschauer aufzuklären – und laut der Aktenzeichen-Redaktion gelingt dies im Durchschnitt auch in etwa 40 Prozent der Fälle. Das Potenzial erkannten auch Fernsehsender aus anderen Ländern und adaptierten das Format. So gibt es eine britische Variante mit dem Titel „Crimewatch“, in Irland heißt die Sendung „Crimeline“ und in den USA und Kanada trägt sie den Namen „America?s Most Wanted“.

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True-Crime-Formate: Von hochwertig bis grenzwertig

Doch abseits alteingesessener Sender wie ZDF und BBC ist das True Crime-Genre auf den großen Streaming-Plattformen heute populärer den je. Vor allem auf Netflix gibt es wahre Verbrechen im Überfluss.

Da wäre die Miniserie „Making a Murderer“ aus dem Jahr 2015, in der die Geschichte von Steven Avery erzählt wird – einem Mann aus Wisconsin, der 18 Jahre zu Unrecht im Gefängnis saß. Die Show löste damals einen regelrechten Internet-Hype aus, der bis heute anhält. Ebenfalls sehr beliebt ist die Anthologie-Serie „American Crime Story“. Darin wurden in bisher drei Staffeln hollywoodreif die Fälle von O. J. Simpson, einem ehemaligen Football-Profi, der seine Frau getötet haben soll, Andrew Cunanan, dem Mörder des Modeschöpfers Gianni Versace, und die Geschichte rund um den Clinton-Lewinsky-Skandal inszeniert. Oder die besonders schrille Netflix-Doku-Serie „Tiger King“, die vor kurzem beim Streamingdienst eine zweite Staffel erhielt: In ihr geht es um den Wildtier-Fanatiker, Polygamisten und Waffennarren Joe Exotic, der in Oklahoma einen Zoo mit seltenen Tieren betreibt – beziehungsweise betrieben hat. Denn Joe Exotic sitzt mittlerweile im Gefängnis, da er eine Rivalin von einem Auftragskiller ermorden lassen wollte – 22 Jahre muss er hierfür absitzen.

Angesichts der Fülle an Formaten, die sich wahren Verbrechen widmen, sei angemerkt: „True Crime“ ist nicht gleich „True Crime“. Neben sensationsheischenden Formaten gibt es nämlich auch journalistisch äußerst hochwertige Produktionen wie den Podcast „Zeit: Verbrechen“ und das dazugehörige gleichnamige Magazin. Moderiert von den „Zeit“-Journalisten Sabine Rückert und Andreas Sentker, werden bei „Zeit: Verbrechen“ nicht nur rätselhafte oder spektakuläre Verbrechen beleuchtet, sondern im Gespräch mit Experten auch interessante und fundierte Einblicke in Bereiche wie Strafverfolgung, Kriminalpsychologie und die Abläufe des hiesigen Justizsystems geliefert. Die frühere Gerichtsreporterin Rückert und ihr Kollege Sentker umschiffen die Kontroversen rund um das „True Crime“-Genre gekonnt, gehen behutsam mit Tätern wie mit Opfern um oder lassen sie – wie jüngst geschehen, als sie den „Fall Kachelmann“ in drei Folgen aufarbeiteten – zu Wort kommen.

Die Beiträge werden zunehmend unseriöser

Es gibt jedoch auch Podcaster, bei denen eine solche Expertise nicht denselben Stellenwert einnimmt wie bei Rückert und Sentker. Hinzu kommt, dass es mittlerweile schwieriger geworden ist, sich mit einem neuen Podcast auf dem weiten Feld der True Crime-Formate zu behaupten. Die Folge ist, dass es mitunter reißerischer zugeht und verzweifelt versucht wird, in irgendeiner Form aufzufallen.

Die relativ neuen Podcasts „Vo(r)N – Verbrechen ohne (richtigen) Namen“ und „Tausend Tote und ein paar Zerquetschte“ zeigen vor allem letzteres in aller Deutlichkeit. Beide sind in der Rubrik „Comedy-True Crime-Podcast“ einzuordnen – und senden weitestgehend am guten Geschmack vorbei. Ganz abgesehen davon zeigen solche Formate, dass das Genre „True Crime“ an einem Punkt angelangt ist, an dem sich Gesagtes wie Gezeigtes und auch die Art der Vermittlung wiederholen. Wenn das bestehende Angebot um immer unseriösere und inhaltlich einander kannibalisierende Formate erweitert wird, ist dies ein klares Zeichen dafür, dass der Genre-Zenit für „True Crime“ bereits überschritten ist.

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