US-Kulturkämpfe

Amerikas linke Medien sind im Widerstand

Nachdem „Roe vs. Wade“ Geschichte ist, geben sich linksliberale US-Medien kämpferisch – und warnen vor düsteren Zukunftsszenarien. Einen Aspekt klammern sie aber völlig aus.
Pro-Choice-Proteste
Foto: IMAGO/Allison Bailey (www.imago-images.de) | Popkultur-Protest: Abtreibungsbefürworter protestieren gegen das Supreme-Court-Urteil im Gewand der dystopischen Serie „The Handmaid's Tale“.

Eigentlich ist das Online-Magazin „Pitchfork“ für seine pointierten, stilistisch anspruchsvollen Musik-Kritiken bekannt. Doch am 24. Juni, jenem historischen Tag, an dem der Oberste Gerichtshof der USA das umstrittene Abtreibungsurteil „Roe vs. Wade“ aufhob und es den Bundesstaaten wieder erlaubte, eigene Abtreibungsgesetze zu erlassen, zerrissen die Rezensenten ausnahmsweise mal nicht die neueste Scheibe von Coldplay. Stattdessen präsentierten sie ihren Nutzern, übersichtlich aufbereitet und versehen mit einem Titelbild von „My body my choice“-Demonstranten, eine Übersicht von Möglichkeiten, wie man jetzt „reproduktive Rechte“, soll heißen ein vermeintliches „Recht“ auf Abtreibung, aufrechterhalten könne. Beispielsweise indem man an Abtreibungsorganisationen spende, das Gespräch mit Politikern im Wahlkreis suche oder einfach, indem man informiert bleibe.

Die uneingeschränkte Parteinahme des Mediums „Pitchfork“ für die „Pro-Choice“-Seite ist kein Einzelfall. Ob „The Atlantic“, „The New Yorker“ oder auch die „New York Times“: Überall in der linksliberalen amerikanischen Medienlandschaft nimmt man in den Wochen seit dem neuen Grundsatzurteil eine Haltung des Widerstands wahr. Das Phänomen als solches ist interessant, wenn auch nicht überraschend. Lange Zeit hatten in den Vereinigten Staaten, die nicht erst seit dem Abtreibungsurteil oder der Trump-Präsidentschaft mehr geteilt denn geeint sind, die Abtreibungsbefürworter die Oberhand. Seit fast 50 Jahren, um genau zu sein. Seit das Oberste Gericht 1973 mit dem Urteil „Roe vs. Wade“ Abtreibungen weitgehend legalisierte. Der Widerstand, das dauerhafte Ankämpfen gegen die bestehende Rechtslage, war zwangsläufig Sache der Lebensschützer.

„Solch eine Darstellung ist raffiniert,
da sie an die emotionale Ebene appelliert, aber natürlich auch einseitig.
Eine grundsätzliche moralische oder ethische Diskussion
über Abtreibung findet überhaupt nicht statt“

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Nun hat sich das Blatt gewendet. Während zahlreiche Bundesstaaten sehr restriktive Abtreibungsgesetze vorbereiten und einige diese bereits in Kraft gesetzt haben, nehmen Abtreibungsaktivisten die Kampfeshaltung ein. Slogans wie „We won? go back“ (frei übersetzt: „Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen“) gehören in dieser Gemengelage noch zur harmloseren Sorte. Besser kommt die vorherrschende Stimmung im progressiven Lager mit dem Motto „Fuck the Supreme Court“ (keine Übersetzung notwendig) zum Ausdruck. Zahlreiche bekannte Namen aus der US-Popszene griffen in Posts und bei Live-Auftritten darauf zurück, etwa Olivia Rodrigo, Lorde, oder Halsey. Aber auch männliche Künstler wie der Rapper Kendrick Lamar ergänzten ihre Konzerte mit Plädoyers für „Frauenrechte“.

In den Magazinen und Zeitschriften findet der Einsatz für Abtreibung ein wenig subtiler, wenn auch nicht weniger entschieden statt. Mit der Argumentation der fünf konservativen Richter, wonach die Verfassung kein „Recht“ auf Abtreibung enthalte und sich ein solches auch nicht aus dem „Recht auf Privatsphäre“, enthalten im 14. Verfassungszusatz, ableiten lasse, hält man sich in der linksliberalen Qualitätspresse so gut wie gar nicht auf. Stattdessen zeichnet man ein für das eigene Publikum düsteres, ja fast schon dystopisches Zukunftsbild. Um dieses auszubreiten, lässt man renommierte Rechtsgelehrte und Verfassungsjuristen zu Wort kommen. Im „Atlantic“ heißt es beispielsweise, die härtesten Abtreibungseinschränkungen stünden erst noch bevor.

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Lebensschutz als Einstieg in die „Dystopie Amerika“

Etwa die zivil- und strafrechtliche Verfolgung von Frauen, die abtreiben, sowie derjenigen, die in irgendeiner Weise bei einer Abtreibung assistieren. Auch wird davor gewarnt, konservative Lebensschützer würden den Beginn menschlichen Lebens gesetzlich auf den Moment der Empfängnis festlegen wollen – womit eine Abtreibung automatisch zum Tötungsdelikt würde. Eine weitere These: „Roe“ sei erst der Anfang gewesen. Nachdem das „Recht“ auf Abtreibung gefallen sei, seien auch andere Rechte, die bislang Verfassungsrang hätten, nicht mehr garantiert: so zum Beispiel das Recht auf Verhütungsmittel oder jenes homosexueller Paare, eine „Ehe“ zu schließen.

Wer hätte sich für einen Gastbeitrag zur drohenden „Dystopie Amerika“ besser geeignet als Margaret Atwood: Die kanadische Schriftstellerin feierte vor Jahrzehnten große Erfolge mit ihrem Roman „The Handmaid? Tale“, in dem sich die USA in einer nicht allzu fernen Zukunft zu einem Gottesstaat entwickelt haben, der Frauen unterdrückt und missbraucht. Parallelen zwischen „Gilead“, wie der Staat in Atwoods Roman heißt, und den USA nach dem Fall von „Roe“ werden im progressiven Lager gerne gezogen – im „Atlantic“ nimmt Atwood selbst den Vergleich vor. Und kommt zu dem Schluss, dass Amerika schon jetzt jener Theokratie gleiche, die sie in ihrem Roman entworfen habe. Das Oberste Gericht führe die amerikanische Gesellschaft zurück ins 17. Jahrhundert, schreibt Atwood. Passend dazu empfiehlt der „Atlantic“ in einer Literaturkolumne weitere dystopische Romane und Erzählungen, die dabei helfen könnten, mithilfe der „Distanz einer imaginierten Welt“ die realen Ängste zu verarbeiten.

Linkes Axiom: Abtreibung sei natürlich, selbstverständlich, begrüßenswert

Man darf das nicht falsch verstehen: Aus all jenen Artikeln spricht die aufrichtige Furcht vor dem Land, das die USA bald sein könnten, auch im Hinblick auf die Spaltung der Gesellschaft, die sich jetzt wohl noch weiter manifestieren wird. Auch sind sie nicht reißerisch verfasst oder frei von Argumenten. Im Gegenteil: Das Thema wird fundiert, anschaulich und hintergründig aufbereitet. So ertappt man sich fast dabei, wie man bei der Lektüre selbst Anteil nimmt, wenn der „New Yorker“ über die letzten Stunden einer Abtreibungsklinik in Texas berichtet.

Und das Bangen und letztlich die Verzweiflung der Angestellten, als sie am Morgen des 24. Juni erfahren, dass sie ihren Dienst nun quittieren und zahlreiche Frauen wieder nach Hause schicken müssen. Solch eine Darstellung ist raffiniert, da sie an die emotionale Ebene appelliert, aber natürlich auch einseitig. Eine grundsätzliche moralische oder ethische Diskussion über Abtreibung findet überhaupt nicht statt. Dass es natürlich, selbstverständlich und begrüßenswert ist, abzutreiben: Das ist das Axiom, das in den linken Medien schlichtweg vorausgesetzt wird.

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