„Me Too“ mal anders

Wenn „Kulturschaffende“ am eigenen Moralismus zugrunde zu gehen drohen. Von Stefan Ahrens

Moralisten mag man einfach nicht. Und das aus gutem Grund. Doch während man Moralisten früher vor allem unter frömmelnden Christen finden konnte, wird man heutzutage eher unter selbsternannten „Kulturschaffenden“ fündig. Doch zunächst: Was sind eigentlich Kulturschaffende? Mit diesem Begriff, der pikanterweise im Nationalsozialismus geboren wurde und auch in der DDR salonfähig blieb, bezeichnen sich Menschen, die beruflich „irgendwas mit Kultur“ zu tun haben und deswegen davon überzeugt sind, moralisch und intellektuell dem Rest der Menschheit überlegen zu sein. Dieses übersteigerte Selbstbild führte beispielsweise jüngst in Deutschland zu einem offenen Brief der „Kulturschaffenden“ an Bundesinnenminister Horst Seehofer, in dem sich auch der frühere „Tutti Frutti“-Moderator Hugo Egon Balder sowie ein Facharzt für Unfallchirurgie (!) nicht entblödeten, sich allen Ernstes als Kulturschaffende zu bezeichnen.

In den USA wiederum vollziehen Kulturschaffende gleich selbst den Sprung vom Bock zum Gärtner – wie beispielsweise die italienische Schauspielerin Asia Argento. Die Tochter von Kultfilmregisseur Dario Argento („Suspiria“) gehörte 2017 zu den ersten Schauspielerinnen, die im Rahmen der (in der Tat wichtigen) „Me Too“-Debatte US-Filmproduzent Harvey Weinstein vorwarf, als 21-Jährige von ihm sexuell genötigt worden zu sein. Sie avancierte daraufhin zur mutigen Vorreiterin bei der Aufdeckung sexueller Übergriffe in Hollywood. Im August 2018 jedoch kam heraus, dass Argento selbst sexuell übergriffig geworden sein soll – und zwar im Jahr 2013 gegenüber dem damals minderjährigen 17-jährigen Schauspieler Jimmy Bennett. Genau wie es männliche Kollegen zu tun pflegen wies Argento die Vorwürfe zunächst zurück – nur um sie dann Ende September in einem TV-Interview zu bestätigen.

Eine selbstkritische Prüfung ist notwendig

Spötter könnten nun behaupten, dass durch Asia Argento der Hashtag „Me Too“ eine ganz neue Wendung erhält. Was bedauerlich ist bei einer so wichtigen Debatte. Doch eine selbstkritische Prüfung ist schon wünschenswert. Höchste Zeit, dass auch so mancher Kulturschaffende sich jenen Satz zu Herzen nimmt, den sie ansonsten gerne selbst Christen vorhalten: „Ihr predigt Wasser und trinkt stattdessen Wein.“

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