Untergangsszenarien gibt es reichlich. Anpassungsversuchungen an die Welt ebenso. Von Politisierungsirrwegen ganz zu schweigen. Die Krise der Kirche, vor allem derjenigen in Deutschland, lässt sich facettenreich beschreiben. Stichworte wie Zölibat. Doch wie kann oder könnte dem Glaubensverlust widersprochen werden, wie könnte eine neue Wirkkraft der Kirche entstehen? Wie sähe eine ihrem Wesen und Auftrag gemäße Reform tatsächlich aus? Worauf kommt es letztlich an – jenseits vieler verlockender und möglicherweise doch nicht zusätzlich Anziehungskraft verleihender Versuche der Anpassung und Nachlassverwaltung?
Missbrauchsskandal , Priestermangel, Protestbewegungen und Misstrauen bis hin zu den stetig wachsenden Austrittszahlen reichen aus, um ein bedrückendes und dunkles Bild zu zeichnen oder sprunghaft in den Köpfen aufflackern zu lassen. Strukturdebatten, Marketingrezepte und teuer bezahlte Unternehmensberater für angebliche neue Bistumsreformen haben ebenso Konjunktur wie synodale Zukunftswege mit den alten und immer wieder in die Debatte geworfenen Dauerbrennerthemen wie Frauenpriestertum undDer Priester und Professor für Wirtschafts- und Sozialethik in Fürth, Elmar Nass, schlägt einen ambitionierten und durchaus anderen Weg vor als den des resignierenden Aufgebens eigener und unterscheidender Identität. Er lebt, wie er „seiner“ Aachener Kirchenzeitung bekannte, lieber mit Zuversicht als in der Depression. Er ist davon überzeugt, dass die Kirche gerade auch heute und erst recht morgen den Menschen und der Welt etwas zu sagen hat, was jenseits weltlicher Kleinkaros die Sehnsucht der Menschen füllt und das Gesicht der Kirche anziehend, glaubwürdig und geistige Nahrung gebend werden lassen kann. Den eloquenten Priester aus dem Bistum Aachen stört zum Beispiel, dass es einen scharfen Ton des Gegeneinanders gibt und immer weniger von Gott gesprochen wird. Ebenso sieht er realistisch, dass es zweifelhafte, unkontrollierte finanzielle Vorgänge wie eine zwar immer wieder bestrittene, aber doch nicht zu leugnende Abhängigkeit von staatlichen Dimensionen gibt. Er hat die Vision, dass die Kirche wieder als ihre Vision den Heiligen Geist erkennt und missionarisch aktiv wird. Manchmal träume er davon, dass „wir Sucher durch die Bistümer schicken, welche Leute entdecken, die unkonventionelle Talente einbringen können“. Und, dass „wir mit den Menschen leben und sie ernst nehmen, ihnen in Wort und Tat von Gott Zeugnis geben“. Schließlich seien „wir das Aushängeschild und Gesicht Jesu“.
Wir brauchen „Tankstellen des Glaubens für Kirche und Gesellschaft“
Nass ist gleichsam inspiriert von all dem, was heute „schiefläuft in Kirche und Gesellschaft“. Das setze in ihm „eine Menge Energie frei“. Was daraus an Ideen bei ihm geworden ist, hat er in einem etwas anderen „Reform“-Buch zusammengefasst. Entstanden ist eine Art Libretto für das Bistum von morgen, eine – so der Titel seines Werkes – „Utopia christiana“ in Dialogform, die zugleich eine kritische Anfrage an die durchaus heutige „Kirche von gestern“ ist. Der missionarische Auftrag in dieser Welt sei nicht eine Art Machterweiterung der Kirche, sondern das Heil der Menschen. Dafür, und zwar nur dafür, müssten Türen geöffnet und Wege gesucht werden. Die radikale Ehrlichkeit, von der heute viel die Rede sei, sei zwar schmerzhaft. Doch sie lasse bei achtsamem Blick und wachem Verstand sowie empfänglichem Herzen die Zeichen der Zeit erkennen, wie er gegenüber dem PURmagazin sagte: Neu-Missionierung durch Vorbild in Glauben und Tugend, durch überzeugende Argumente in Wertediskussionen, durch geteilte Lebenskraft aus Gebet und Sakramenten.
„Nass weiß, dass der neue, aber durchaus mögliche Aufbruch nicht
von heute auf morgen gelingen kann, weil es zunächst eine Zeit des
Weges durch die Wüste geben werde. Doch jetzt komme es darauf an,
für die Zeit danach die richtigen Weichen zu stellen“
Man brauche zum Beispiel aber auch „wieder eine kirchliche Theologie, die Glaube und nicht Säkularität vermitteln hilft“. Dringend benötigt seien wieder „Tankstellen des Glaubens für Kirche und Gesellschaft“. Nass weiß, dass der neue, aber durchaus mögliche Aufbruch nicht von heute auf morgen gelingen kann, weil es zunächst eine Zeit des Weges durch die Wüste geben werde. Doch jetzt komme es darauf an, für die Zeit danach die richtigen Weichen zu stellen. Dazu gehöre, „jetzt die Säkularisierung von Kirche und Theologie zu stoppen und statt banaler Tagespolitik das Geheimnis des Glaubens an die Auferstehung und an die Menschwerdung Gottes, Fortbildungen zur Glaubensfreude umfassend durchzuführen, Strukturfragen nur im Dienst an der Mission anzugehen und nicht zuletzt glaubwürdige Nächstenliebe“ zu praktizieren. Elmar Nass: „Das wirkt nicht sofort, ich weiß, aber es wirkt dennoch und öffnet dem Heiligen Geist unsere Türen!“
Elmar Nass zeichnet in seinem Buch in einer Art Wortprotokoll das Szenario eines neuen Bistums mitten in Deutschland, bei dem es dem Bischof Martin darum geht, lebendige Kirche ohne die so bequeme finanzielle Sicherheit zu planen und ohne Abhängigkeit von Macht und Ideologie, aber von der Mitte her kommend, den Segen und das Heil des Gottessohnes in Treue zu seiner Erlösungsbotschaft vermittelnd und das konkrete Leben der Menschen im Blick. Handelnde Personen sind neben Bischof Martin, der seiner Vision des Bistums Utopia eine Chance geben möchte, der beauftragte Missionar Thomas, einige Missions-Gefährten sowie der Erzähler selbst und ein Erzbischof in Rom als Förderer von Martin. Alles wird – mit Einwänden garniert – auf dem Weg zur Gestaltung des Bistums und seinen ersten Jahren in Seelsorge und Weltoffenheit beschrieben.
Eine Vision von wiedererwachtem Christentum
Nach 20 Jahren kann er dann ein Fazit formulieren, das ebenso realistisch wie hoffnungsvoll klingt: „Die Christen machen sich mehr als früher wieder die Orientierungskraft unseres Glaubens für das Leben und die Gestaltung der Gesellschaft bewusst. Sie hören nicht mehr zuerst auf ethische Denk- und Lebensmodelle der anderen, sondern argumentieren wieder ausdrücklich mit der christlichen Idee von Würde und Verantwortung, wie in der Schrift und Tradition grundgelegt ist. Sie entwickeln wieder mehr lebendige Tugenden wie Mut, Dankbarkeit, Hoffnung und Gebet, die als Habitus ausstrahlen... Sie mischen sich wieder mehr als früher auch in politische Diskussionen ein, wo sie mit ihrer ausdrücklich religiös begründeten Ethik eigene Positionen einbringen und auf mögliche Defizite alternativer Positionen mutig hinweisen. Christlich-soziale Positionen sind somit wieder Teil der gesellschaftlichen Diskussionen geworden mit einer nicht immer bequemen, aber dennoch verlässlichen Stimme.“ Die christliche Glaubenskultur wirke einladend und herausfordernd auf die sie umgebenden Kontexte. Und die Ratio Christi trete als Letztprinzip von Ethik und gutem Leben an die erste Stelle. Im neuen Bistum finde sich ein reformatorisches Prinzip „Solus Christus“ – allein Christus als Maßstab für Leben und Glauben, für Glauben im Leben und für ein Leben aus praktiziertem Glauben wieder.
Der Missionar Thomas, der für Bischof Martin von Utopia das pastorale Konzept ohne spektakuläre Neuerfindung und unter Berücksichtigung der soziologischen Fakten erarbeitete, kann feststellen, dass die Kernthemen von Kirche wieder erkennbar seien, mit denen sie den Menschen Gutes zu sagen habe. Vor allem Tranzendenzerfahrungen seien (wieder) ermöglicht worden. Schließlich sei die Kirche weder NGO, noch Tierschutz-, Umwelt- oder Menschenrechtsverein. Sie sei Gottes Werk, an dessen aktiver Mitwirkung und zu dessen Umsetzung alle berufen seien. Nicht nur Kleriker.
Elmar Nass bietet mit seinem außergewöhnlichen Buch eine nicht ganz außergewöhnliche Perspektive an, worauf es heute letztlich ankommt für die Kirche. Eine Diskussionsgrundlage ist seine Schrift allemal. Vielleicht sogar viel mehr.
Elmar Nass: Utopia christiana. Mit einem Geleitwort von Erzbischof Ludwig Schick.
LIT-Verlag, Berlin 2019, 240 Seiten, EUR 19,90
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