Idenditätsverwirrung

Zu Mohsin Hamids Roman „Der letzte Weiße“

Alle Menschen werden braun: Zu Mohsin Hamids hochgelobten erzählerischen Roman „Der letzte Weiße“.
Nashornkopf in Potsdam
Foto: IMAGO / Camera4 | Alle Menschen werden zu Nashörnern. Eugene Ionesco hatte diese Idee zu einem Theaterstück, nun ist das Thema im besprochenen Roman abgewandelt zur großen Bräunung.

Besser man deckte über Mohsin Hamids Roman genannte Peinlichkeit das barmherzige Tuch des Schweigens aus, doch da der britisch-pakistanische Autor das richtige woke Buch zur rechten woken Zeit geschrieben hat, wollten die Verantwortlichen die Buchmesse mit seiner Keynote eröffnen. Es gab Zeiten, da standen an Hamids Stelle Schriftsteller wie Salman Rushdie, denen es nicht um die Botschaft, sondern um das Erzählen zu tun war.

Es mag sein, dass Salman Rushdie die Berufung Mohsin Hamids als ein Sprecher der Keynote als krasse Fehlentscheidung empfinden könnte, denn Hamids Buch fehlt Rushdies emanzipatorischer Impetus, es versucht nicht, über die Vorurteile und Ressentiments hinauszugehen, sondern es lebt von Vorurteilen und Ressentiments. Rushdie ist im Gegensatz zu Hamid ein wirklicher Erzähler, dessen ganzes Werk im Zeichen der Aufklärung steht, für ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Konfession, unterschiedlicher Kultur, unterschiedlicher Hautfarbe, einem Zusammenleben, das nicht von Ideologie und fanatischen Auslegungen von Religionen oder von Überlegenheitsgefühlen mit Blick auf eine Hautfarbe lebt.

„Man kann auf das Cover noch so oft das Wort Roman schreiben,
wenn im Text weder Figuren, noch eine Handlung vorkommen,
so mag der Text dann alles mögliche sein, ein Traktat,
ein Pamphlet, eine Phantasie, nur eben kein erzählendes Werk“

In Mohsin Hamids Buch „Der letzte weiße Mann“ hingegen wird die Welt erst friedlich und glücklich sein, wenn der letzte weiße Mann gestorben ist. Den Text eröffnet der Satz: „EINES MORGENS WACHTE ANDERS, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tief braun gefärbt hatte.“ Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ beginnt mit dem Satz: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Nun wird niemandem verwehrt, Kafka zu lesen, doch garantiert der bloße Akt des Buchstabenzusammenziehens nicht zugleich das Verständnis, die kulturelle Aneignung, die man gemeinhin Rezeption nennt.

Kafka startet mit einer Figur, die im Verlauf der Erzählung immer mehr Komtur gewinnt, mehr noch, deren Gründe und Abgründe der Leser entdeckt, die Abscheu und Mitleid, Nähe und Distanz in ihm hervorrufen. Nicht so bei Anders, der zunächst erst einmal realisieren muss, dass sich seine Haut tatsächlich signifikant gebräunt hatte. Gründe existieren nicht und bei einer Figur, die nur Oberfläche ist, natürlich auch keine Abgründe. Irgendwann wird dem Leser sogar mitgeteilt, dass Anders viele, sehr viele Bücher besitzt, nur erfahren wir nicht einen Titel. Bücher kommen als Abstraktum, als Kilo- oder Tonnenware, nicht aber als einzelnes, konkretes Buch vor.

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Die Sehnsucht findet sich in der Hautfarbe

Hoch begabt, wie er nun einmal sein soll, hat Anders kein Studium absolviert, sondern begann, im Fitness-Studio zu arbeiten. Anders erschreckt die Verfärbung nicht aus gesundheitlichen, sondern sofort aus gesellschaftlichen Gründen. Das Nächstliegende unterlässt er, nämlich zum Hautarzt zu gehen, denn Anders könnte bei plötzlicher Braunfärbung der Haut auch an ein medizinisches Problem denken. Doch Anders klassifiziert wie eine Figur, die brav auf ihren Autor hört, die Veränderung der Hautfarbe sofort als Verhängnis.

Man befindet sich von Anfang an nicht auf einer erzählerischen, sondern auf einer symbolischen Ebene, wo alles nicht sein, sondern etwas bedeuten soll – und wir kommen 157 allzu lange Seiten nicht mehr von dieser Ebene herunter, denn sie ist die einzige Ebene des Textes. Sie bestimmt, was man großzügig Handlung nennen könnte. Aber es geht nicht um Handlung, sondern um Symbolik. Anders geht nicht zum Arzt, sondern ist entsetzt, trägt schwer an Selbstmordgedanken, denn „Was er (im Spiegel) sah, war nicht der Anders, den er kannte.“ Besteht das ganze Anders-sein nur aus seiner Hautfarbe? Ist Anders anfänglich und letztlich nur ein künstliches Produkt der Identitätspolitik? Ist sein Äußeres auch sein Inneres?

Erlösung von der Weißenscham durch Braunfärbung

Um es kurz zu machen, Anders traut sich nicht mehr auf die Straße, nicht mehr zu seiner Arbeit, doch seine Freundin Oona hält zu ihm, und nicht allein er „verwandelt“ sich, sondern nach und nach alle Menschen. Wie in Ionescos „Nashörnern“. Außer Oona, die sich in tiefster Weißenscham schwarz schminkt. Doch letztlich wird auch Oona von ihrer Hautfarbe erlöst, auch ihre Mutter.

Als Oona zum Haus von Anders Vater kam, der gerade gestorben war, zeigt sie voller Freude Anders die Handflächen, die sich bräunten, um zu sagen, das bin ich. „Anders starte sie an und sagte, Wow ... und dann küsste sie ihn, und der Kuss fühlte sich“, natürlich „anders an, weil ihre Lippen sich anders anfühlten.“ Happy end in Color. Der tiefste philosophische Grund, die Leidenschaft, die Sehnsucht findet sich in der Hautfarbe, ist die Hautfarbe, oder anders, also bei Anders: Die Hautfarbe ist alles, sie bestimmt Liebe, Physiologie und Beschaffenheit. Schwarze Küsse schmecken anders bei Anders als weiße Küsse, viel besser natürlich. Der letzte Mensch, der noch eine weiße Hautfarbe besaß, war Anders Vater, „der einzige weiße Mensch in der ganzen Stadt, der noch übrig war, sonst gab es niemanden mehr, und dann wurde sein Sarg geschlossen, und er wurde beigesetzt und der Erde übergeben, der letzte weiße Mann, und danach, nach ihm, kam niemand mehr“. Halleluja. Der Irrtum der Welt, der weiße Mann, wurde dadurch beendet.

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Weniger Wut, eher Kummer über Verlust

Am Schluss des Romans heißt es, dass die beiden Hauptfiguren, Oona und Anders, nicht „viel über die Vergangenheit“ sprachen, über die weiße Vergangenheit, nur Oonas Mutter erzählte ihrer „braunen“ Enkelin von dieser weißen Vergangenheit, „versuchte, ihr ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie es damals gewesen war, woher sie eigentlich kamen, für das Weißsein, das man nicht mehr sah, das aber immer noch ein Teil von ihnen war, und das Mädchen hatte seine Großmutter gern und war ihr gegenüber erstaunlich tolerant, und so überraschte sie ihre Großmutter, als sie eines Tages unterbrach, als sie ihre Großmutter bei den Händen hielt und sagte Stopp, nur das eine Wort Stopp, das war alles, aber es traf ihre Großmutter tief, denn sie sah, dass das Mädchen sich schämte, und zwar nicht für sich selbst, sondern für sie, ihre Großmutter, und ihre Großmutter spürte eine große Wut in sich aufsteigen, aber mehr noch als Wut spürte sie Kummer, eine tiefes Gefühl des Verlustes.“

Die Welt ist also dann in Ordnung, wenn sich die Enkelin für ihre Großmutter schämt? Über Geschichte zu reden, verlangt also Toleranz, die Wirklichkeit erfordert mithin Duldung? Doch die Duldung, die Toleranz hält nicht lange an, auch sie wird bald schon kassiert durch das eiskalte „Stopp“ der Enkelin. Dieses Stopp aber realisiert nur den Imperativ der Cancel culture. Anderes wird in Anders Welt nicht mehr geduldet. Die Geschichte stört in einer Gesellschaft, die ihre weiße Vergangenheit überwunden hat, mehr noch – ungewollt zieht der Autor die Konsequenz, dass der Diskurs der Geschichte aufhören und vergessen werden muss, wenn sein Gesellschaftskonstrukt ohne Weiße funktionieren soll.

„Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch.“

Man kann auf das Cover noch so oft das Wort Roman schreiben, wenn im Text weder Figuren, noch eine Handlung vorkommen, so mag der Text dann alles mögliche sein, ein Traktat, ein Pamphlet, eine Phantasie, nur eben kein erzählendes Werk wie es Roman, Novelle, Anekdote, Fabel, Erzählung, Kurzgeschichte, Parabel, sogar der Witz sind. Ganz anders bei Eugène Ionesco in dem Stück „Die Nashörner“, das zum klassischen Bestand des Absurden Theaters gehört. Dort verwandeln sich nach und nach alle Menschen in Nashörner, nur die Hauptfigur Bérenger nicht, der am Ende der letzte Mensch ist. Im Stück verlässt Behringer seine Wohnung aus Angst, sich ebenfalls in ein Nashorn zu verwandeln, nicht mehr. Dass Stück endet mit Bérengers Worten: „Gegen alle Welt werde ich mich verteidigen, gegen alle Welt. Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“

Natürlich kann man eine Verwandlung erzählen, doch Anders' Verwandlung geht im wahrsten Sinne des Wortes nicht unter die Haut. Natürlich kann man erzählen, was es mit einem Menschen macht, wenn sich seine Hautfarbe und dadurch seine gesellschaftliche Stellung oder sein Selbstverständnis verändert. Dann muss man es aber auch erzählen, dann muss man die symbolische oder ideologische Ebene verlassen und auf die erzählerische Ebene wechseln, dann bedarf es keines Anders', sondern eines Gregor Samsas, dann muss man wirkliche Menschen in ihrer ganzen Ambivalenz und vertrackten Alltäglichkeit darstellen und eine Welt beschreiben und nicht allgemeine Meinungen über Zustände an die Stelle der Weltbeschreibung setzen.


Mohsin Hamid: Der letzte weiße Mann. Roman.
DuMont Buchverlag, 160 Seiten, ISBN-13: 978-383218-213-7, EUR 22,–

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