Was macht Willi Graf, diesen im Jahr 1918 geborenen Dorfjungen aus dem Rheinland, so besonders verehrungswürdig, dass Schritte für ein Seligsprechungsverfahren überlegt werden? Das jüngst im fe-Medienverlag erschienene Werk von Thomas Alber, „Aufrecht bis zum Schafott. Willi Graf und die ,Weiße Rose‘“ gibt genau darauf Antwort. Alber gräbt in der Vergangenheit und legt bislang verhüllte Spuren frei. Die Befragung von Zeitzeugen, Berichte von Familienmitgliedern sowie das Hinzuziehen von Briefen und Tagebucheinträgen bilden das Fundament seiner Recherche, die umfassende Einblicke in die Geschichte der „Weißen Rose“ ermöglicht. Eine Besonderheit des vorliegenden Buchs ist dabei, dass der Autor die moralischen Einstellungen, die katholische Ausrichtung und Spiritualität der Widerstandskämpfer wie kaum zuvor ans Licht hebt. Die Mitglieder der Weißen Rose werden vorgestellt und ihre Taten detailliert beschrieben, doch der Fokus liegt auf dem Leben, dem familiären Umfeld und dem Werdegang von Willi Graf.
Gegen die Hitlerjugend, für das Evangelium
Vor allem die Mutter Willi Grafs versuchte, die katholischen Glaubenswahrheiten in die Herzen ihrer drei Kinder zu säen. Bei ihrem Sohn erwies sich der religiöse Boden als besonders fruchtbar, erinnert sich dessen Neffe. „Neue Lebensgestaltung in Christus“ lautete der Leitsatz der Gemeinschaften, denen er sich in den Jugendjahren anschloss. Graf wollte nach dem Evangelium leben, und setzte sich intensiv mit der katholischen Theologie auseinander, las Thomas von Aquin und Romano Guardini. Weil er die „Hitlerjugend“ ablehnte und sich an den staatlich unterdrückten katholischen Jugendgruppen beteiligte, kam der junge Student in Untersuchungshaft, wurde jedoch nach drei Wochen amnestiert.
Anfang 1940 wurde Willi Graf als Sanitäter zur Wehrmacht eingezogen und erlebte die Schrecken des Vernichtungskriegs an unterschiedlichen Kriegsschauplätzen Europas.
Im April 1941 musste er an die Ostfront, wo er die Gräueltaten des NS-Regimes hautnah erlebte und in Briefen schilderte. Die Erlebnisse dort bestärkten ihn in seinem Willen zum Widerstand. Am deutlichsten blieb ihm sein Aufenthalt in der polnischen Hauptstadt Warschau in Erinnerung, wo er viel Elend erlebte. Neben seinem Medizinstudium in München beschäftigte sich Willi Graf intensiv mit religiösen Fragen. Der Glaube gehörte zu seinem Leben wie die Luft zum Atmen, wobei er erkannte, dass das Christentum keine Religion der Bequemlichkeit ist. Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht das Kreuz, wie Graf in einem Brief an seine Schwester formulierte. In München kam er bald in Kontakt mit Gleichgesinnten, die Hitlers Herrschaft als diabolisch durchschauten.
Bei der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ handelte es sich um einen Freundeskreis von Studenten, die – geleitet von religiös-ethischen Prinzipien – bereit waren, für die Wahrheit zu sterben, mit der Zuversicht, das ewige Leben als Preis zu gewinnen. Bei literarischen Treffen und geheimen Diskussionsrunden entstand die Idee, das deutsche Volk mit Hilfe von Flugblättern wachzurütteln und vor der Ideologie des Nationalsozialismus zu warnen. Willi Graf kam dabei die entscheidende, äußerst waghalsige Rolle zu, neue Helfer anzuwerben. Faszinierend ist die vom Glauben getragene Klarheit der Gruppe, die sich gegen das Regime des Bösen und für Wahrheit und Gerechtigkeit positionierte.
„Der Staat soll eine Analogie der göttlichen Ordnung darstellen, und die höchste aller Utopien, die civitas Dei, ist das Vorbild, dem er sich letzten Endes nähern soll. […] Unser heutiger ,Staat‘ aber ist die Diktatur des Bösen“, schreiben die wortgewandten Studenten in ihren Flugblättern. Aus ihnen spricht ein tiefer Glaube und großes Gottvertrauen, die sie für ein christliches Abendland kämpfen ließen. So hieß es im vierten Flugblatt: „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und das Völkerrecht sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr friedenstiftendes Amt installieren.“ Die Gruppe hatte „eine merkwürdig fatalistische Einstellung zum Sterben“, wie einer der Studenten selbst schrieb. Dass sie sterben würden, war ihnen klar – die Frage war nur für wen: für Hitler oder gegen ihn.
Ein Sieg, reich an Niederlagen
Nach den Todesurteilen gegen die Geschwister Scholl erreichte die Verurteilungswelle auch Willi Graf. Am 19. April 1943 fand der Prozess gegen ihn und weitere Mitstreiter statt. Roland Freisler, der gefürchtete Blutrichter der Nationalsozialisten, leitete selbst die Verhandlung im Justizpalast. Ausführlich wurde das Verfahren von einem der Angeklagten geschildert, wodurch wir direkte Einblicke in die Leidensstunden von Willi Graf erhielten. Trotz stundenlanger Nervenanspannung blieb Willi Graf ruhig und bekannte sich zum Widerstand gegen das Regime, den er aus dem Glauben an ein besseres Deutschland heraus geleistet hatte. Sechs Monate nachdem das Urteil verkündet wurde, wurde es vollstreckt: Willi Graf wurde am 12. Oktober 1943 enthauptet. In seinem letzten Brief an seine Familie appelliert er, ein Leben voller Vertrauen auf Gott zu führen, der auch in schmerzhaften Situationen alles zum Besten leite. Gerade hierin zeigt sich Willi Graf als christliches Vorbild.
Auch wenn Willi Graf und seinen Freunden ein sichtbarer Erfolg versagt blieb, setzten sie ein klares Zeichen im Kampf für christliche Grundsätze, den sie mit ihrem Bekennertod besiegelten. Errang er den Sieg, der nicht von dieser Welt ist? Jedenfalls findet sich heute der Name von Willi Graf im deutschen Martyrologium. Thomas Alber plädiert in seinem quellenreichen, recherchestarken Buch auch für die Seligsprechung.
Thomas Alber: Aufrecht bis zum Schafott. Willi Graf und die „Weiße Rose“. Fe-Medienverlag, Kisslegg 2023, 264 Seiten, ISBN 978-3-86357-370-6, EUR 12,80
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