Buch über Thomas von Aquin

Wahrheit als Lebensthema

Hanns-Gregor Nissing legt eine ausgezeichnete Studie über Leben und Denken des heiligen Thomas von Aquin vor und leuchtet dessen Sicht auf Wahrheit, Intellekt, Beziehung, Gottesebenbildlichkeit und Zeugnis aus.
Thomas von Aquins Überlegungen zur Gotteserkenntnis sind brillant
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Thomas von Aquins Überlegungen zur Gotteserkenntnis sind brillant und scharfsichtig zugleich.

"Ich bete dich ergeben an, verborgene Wahrheit“. Was jemand zuletzt spricht, bleibt am meisten im Gedächtnis. Bei Thomas von Aquin war es dieses Gebet: Adoro te devote, latens veritas. Generationen von Menschen sind mit diesem Hymnus auf den Lippen zur Kommunion gegangen oder haben in dieser Haltung das Sterbesakrament empfangen. Dieses Gebet, das inzwischen völlig in Vergessenheit zu geraten scheint, gehört zum poetischen Erbe des Aquinaten. Es wiederzuentdecken, lohnt sich, zumal, wie der Autor plausibel klarzumachen versteht, hier das Zentrum des gesamten Denkens, Lebens und Liebens des heiligen Gelehrten zu finden ist.

Wahrheit war sein Lebensthema

Thomas von Aquin strebt nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Die Wahrheit kann als sein Lebensthema bezeichnet werden. Doch was ist Wahrheit, wie ist sie zu erkennen, wie zu bezeugen und weiterzugeben? Thomas bemüht sich um Klarheit. So wird die Wahrheit in all ihren Dimensionen und Relationen beleuchtet. Sie bezieht sich auf die Geist-Seele des Menschen; denn sie, die anima, ist in gewisser Weise alles, quodammodo omnia.

Der Intellekt ist darauf angelegt, mit allem, was Sein hat, übereinzukommen. Er ist von sich aus dazu fähig, alles, was ist, zu erkennen; und zwar nicht nur in quantitativer, sondern auch und gerade in qualitativer Hinsicht. Sie vermag bis zum Wesen der Dinge vorzudringen, keineswegs aber das Wesen ganz und gar zu umgreifen: nicht einmal das Wesen einer Mücke. Die erstaunliche Fähigkeit des menschlichen Intellekts bedarf der Erklärung. Thomas rekurriert auf eine Stufenfolge nicht nur des Geschaffenen, wie der Autor meint, sondern der Wirklichkeit insgesamt: von den unbelebten Körpern, über die Pflanzen- und die Tierwelt bis zum Menschen und den reinen Geistwesen, den Engeln, mehr noch, bis zum dreifaltigen Gott selbst.

In Beziehung mit der Welt

Der höheren Komplexität eines Wesens entspricht in der Regel, so Thomas, nicht nur die seines organischen Körperbaus. Vielmehr korrespondiert sie einer größeren Innerlichkeit, das heißt der Fähigkeit, in Beziehung zu treten mit der Welt, von der bescheidenen Berührungswelt der Pflanzen, über die Umwelten der Tiere bis hin zu der alle Teil- und Klein-Welten übergreifenden Welt als der Totalität des Seins. Je innerlicher der Lebensvorgang, je mehr innenbleibend die Frucht dieses Lebensgeschehens, desto höheren Ranges ist auch jeweils das Lebendige selbst:

Das pflanzliche Leben wird von außen kommenden Kräften genährt. Seine Frucht wächst von innen nach außen: Der Apfel fällt schließlich vom Baum. Die Frucht aber des sensitiven, auf Sinneswahrnehmung ruhenden Lebens bleibt innen, gleichwohl auch sie von außen ihren Ursprung nimmt. Selbst der Geist des Menschen bedarf des Außen, während die Engel reine Innen-Wesen sind und sich der Kreis des Seins schließt, bis in Gott selbst die Innerlichkeit des Lebens in Vollendung und Identität gegeben ist: Gott und Welt sind nicht mehr als Gott. Ein Mehr als Gott gibt es nicht. Vielmehr ist die Welt – so wie sie innerlich gedacht und gewollt ist – von Gott und gerade darin von Gott verschieden.

Der Mensch ähnelt Gott, Gott aber nicht dem Menschen

Das Maß der Abhängigkeit der Schöpfung von Gott bestimmt das Maß der Verschiedenheit. Thomas spricht von einer einseitigen Relation des Geschaffenen auf Gott. Der Mensch ähnelt Gott, Gott aber nicht dem Menschen. Gesetzt den Fall, es gäbe keinen menschlichen Intellekt, so würden die Dinge dennoch wahr genannt werden können. Sie sind es nämlich aufgrund ihres Geschaffenseins, genauer: im Blick auf den erkennenden Gottesgeist. „Wenn aber das Unmögliche angenommen würde, beide intellectus, den menschlichen und den göttlichen, gäbe es nicht, dann kann der Begriff der Wahrheit auf keine Weise mehr bestehen“ (De veritate 1,2). Auf diese einseitige Relation und ihre theologische Bedeutung hätte der Autor intensiver eingehen dürfen. Sie spielt gerade für die Gotteserkenntnis und Gottesrede nicht zuletzt im Kontext der Analogielehre eine exzeptionelle Rolle.

Gott offenbart sich in Jesus Christus. Thomas von Aquin weiß sich von ihm angesprochen und in Anspruch genommen: als Mendikant und Magister. Die Dramatik seiner Berufung wird geschildert. Die Dominikaner gehörten ebenso wenig wie die Franziskaner zu den etablierten kirchlichen Orden. Vergleichbar unseren heutigen Geistlichen Gemeinschaften wurden sie eher naserümpfend zur Kenntnis genommen, ja bekämpft.
Eifersüchteleien, Konkurrenzdenken und auch der Kampf um Einfluss und Macht in der Kirche waren keineswegs ausgeschlossen.

Richtig verstandene und vollzogene Nachfolge Christi

Doch vor allem dominierte das ernste Ringen um die richtig verstandene und vollzogene Nachfolge Christi. Das theologische Niveau, auf dem sich das Ringen um die Erneuerung der Kirche bewegte, ist erstaunlich hoch und für heute geradezu vorbildlich. Und vor allem: Die Akteure wussten um ihre Erlösungsbedürftigkeit. Sie waren keine Prometheusmenschen. Von maßloser Selbstherrlichkeit und schrankenloser „Machermentalität“ waren sie weitgehend frei. Sie erhofften sich von Christus das Heil und rangen um die rechte Balance zwischen Erlösungsbedürftigkeit und Eigentätigkeit.

Thomas selbst sah sich als Lehrer in der Nachfolge der Apostel. Er wusste sich zum Professor der Theologie berufen und nahm seine Aufgabe ernst. Sie bestand im Lesen, im Disputieren und Predigen. Theologie verstand Thomas als Wissenschaft. Der Aufbau wie der Inhalt seines Hauptwerkes, der Summa theologiae, zeigen es exemplarisch. Sie ist in drei Teile gegliedert, wobei der zweite der weitaus umfangreichste ist. Er handelt vom Menschen und seinen Akten. Da der Mensch Bild Gottes ist, muss zunächst, prima parte der Summa, von Gott, die Trinität und die Schöpfung und schließlich im dritten Teil gleichsam als Höhepunkt und gnadenhafte Heilung des Menschen durch Gott über Christus, die Inkarnation und die Sakramente gehandelt werden.

Glückseligkeit im Sehen Gottes

Mit „Sakrament und Schöpfung“ ist sodann der dritte Teil vorliegender Studie überschrieben. Dabei wird auf die allgemeine Sakramentenlehre eingegangen und im speziellen Blick auf das Tantum ergo die Eucharistielehre des Thomas dargestellt. Die Überlegungen münden ein in die Reflexion dessen, was den „Notenschlüssel“ des geschaffenen Seins ausmacht: die Kreatürlichkeit. Sie findet ihre Erlösung in Christus am Ende der Tage.

Auf dem Hintergrund der Vollendung des Menschen, seiner Glückseligkeit im Sehen Gottes kommt die Persönlichkeit des Thomas von Aquin abschließend zu Wort. Er ist Zeuge des wahren Menschseins, Zeuge vor allem des Wortes Gottes, des gelingenden Lebens, Zeuge nicht zuletzt der Eucharistie und der Eschatologie, genauer des Ewigen Lebens.

Was geboten wird, ist eine gut lesbare, äußerst sorgfältig erarbeitete, am Hymnus Adoro te devote orientierte Studie über Thomas von Aquin, über sein Denken wie Dichten, über sein Leben und Lieben. Gleichzeitig wird hervorragend eingeführt in die Weite und Tiefe des katholischen Glaubens. Die Lektüre lohnt sich.

Nissing, Hanns-Gregor: Denker und Dichter. Thomas von Aquin. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Pneuma Verlag, München 2022, 488 Seiten, ISBN: 978-3942013550;
EUR 29,95

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