Die historische Erinnerung eines Landes ist so selektiv wie das menschliche Gedächtnis. Manches ist übergroß und omnipräsent, anderes ist so gut wie vergessen. Für das deutsche Geschichtsbewusstsein gilt das in besonderer Weise und das aus guten, jedenfalls aber nachvollziehbaren Gründen. Die Geschichte des Dritten Reichs, Hitlers, des Holocausts und des Zweiten Weltkrieges ist Dreh- und Angelpunkt für Erinnern, Verstehenwollen und Bewältigenmüssen. Es kann und sollte auf absehbare Zeit nichts anders sein. Doch liegt auf der Hand, dass eine solche Verengung des Blicks zu Lasten anderer Themen und Fragen geht. Schon der Erste Weltkrieg – man könnte salopp sagen: weit abgeschlagen auf Platz zwei des deutschen Geschichtsbewusstseins – ist schlecht verankert in der kollektiven Erinnerung und wird in seinem monströsen Charakter und seinen verheerenden Folgen kaum richtig verstanden.
Über die Kriege hinaus
Geht man über beide Weltkriege hinaus, beginnt ein geradezu pathologisches Vergessen, das auch noch dadurch begründet und scheinlegitimiert wird, dass man es für politisch geboten hält, sich von verfänglichen Themen fernzuhalten. Als sich im letzten Jahr die Reichsgründung zum 150. Mal jährte (ein wahrlich epochales Ereignis der europäischen Geschichte), waren die politischen Berührungsängste so groß, dass man auf Gedenkfeiern, Ausstellungen, Veranstaltungen und Bücher fast komplett verzichtete.
Umso bemerkenswerter, dass nun die 100. Wiederkehr des Jahres 1923 so große Schatten vorauswirft. Die Zahl der schon erschienenen oder angekündigten Bücher ist kaum noch zu überblicken. Alle Welt schreibt jetzt über 1923. Dabei steht meistens die Hyperinflation im Mittelpunkt, und das dürfte der Hauptgrund sein, warum das Jahr für Autoren und Verlage plötzlich im Trend liegt: Die gegenwärtig höchste Inflation seit Jahrzehnten weckt das Interesse an einer urdeutschen Erfahrung, der Hyperinflation, die im Herbst 1923 mit 30 Prozent Preissteigerung (monatlich) ihren Höhepunkt erreichte.
Hitler wird populär
Ruhrgebietsforscher Werner Boschmann dagegen hat ein ganz anderes, überraschendes Buch über das vergessene deutsche Schicksalsjahr geschrieben. Nicht die Inflation, sondern die Ruhrbesetzung ist sein Thema. 100 000 französische und belgische Soldaten besetzten ab Anfang 1923 das Ruhrgebiet, um der wirtschaftlich daniederliegenden deutschen Republik die Versailler Reparationsleistungen wenn schon nicht in bar, dann in Form von Kohle, Stahl, Holz und Industriegütern gewaltsam abzupressen. Die Demütigung und Ungerechtigkeit, die darin lag, machte Hitlers Hetze gegen das „Diktat von Versailles“ noch populärer und spielte den Nationalsozialisten in die Hände. Doch Boschmanns Fragestellung ist nicht in erster Linie die nach den politischen Folgen. Ihm geht es viel mehr darum, Geschichte zu erzählen, indem die Zeitgenossen selbst zu Wort kommen, die Akteure, die Opfer, die Beobachter und oft auch: der kleine Mann, der sonst bei Historikern meist unter den Tisch fällt.
Er hat dazu in Archiven Material unterschiedlichster Art gesammelt, da findet die französische Presse der Zeit genauso Platz wie der lokale Einzelfall, der alltägliche Kampf zwischen Widerstand, Sabotage und Anpassung, ja sogar die kuriose Begebenheit am Rande, die für sich genommen nicht weltbewegend sein mag und doch viel sagt über die Menschen ihrer Zeit – mehr als viele neunmalkluge Analysen nachgeborener Historiker. Wer hätte etwa je gehört vom „Essener Blutsamstag“ oder von der „Dortmunder Bartholomäus-Nacht“, beides Ereignisse, die damals die Nation in Aufruhr brachten. In Essen wollten französische Soldaten die Lastwagen der Firma Krupp beschlagnahmen.
Dattelner Abendmahl
Als Arbeiter und Werksleitung sich widersetzten, schossen die Soldaten in die Menge, 13 Arbeiter starben. Die französische Regierung machte Gustav Krupp von Bohlen und Halbach verantwortlich und verurteilte ihn in einem Schauprozess zu 15 Jahren Gefängnis. (Der Heilige Stuhl intervenierte zu seinen Gunsten; in Haft verbrachte er nur sieben Monate.) In Dortmund fielen zwei Besatzer (wie man heute sagen würde:) deutschen Partisanen zum Opfer, was die Franzosen mit neuer Härte und Brutalität gegen die einheimische Bevölkerung quittierten.
Noch überraschender ist die Geschichte vom „Dattelner Abendmahl“, bei dem ein französischer Besatzungsoffizier und sein deutscher Widerpart, der Bürgermeister des Dorfes am Nordrand des Ruhrgebiets, am Altar die blutige Feindseligkeit der vorangegangenen Tage überwinden: „Der Pfarrer hatte die Gnade, Bach (den frz. Offizier. Anm. d. Red.) nicht zurückzuweisen. Freilich seine Hand zitterte, als er die Zeichen darbot. Und sie aßen und tranken vom gleichen Brote, aus dem gleichen Kelche. Sie ließen das Kreuz gelten über sich. Und das Kreuz erwies seine Versöhnungsmacht.“ So erweist sich Boschmanns Buch ein ums andere Mal als historische Schatztruhe, in der sich Überraschendes, Erschreckendes, Berührendes findet.
Der Ruhrkampf
Ruhrbesetzung und Ruhrkampf wurden in der Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte auch deshalb gemieden, weil sie heute als „rechte“ Themen gelten. Das erklärt sich daraus, dass die Härte und Ruchlosigkeit der Besatzer notwendigerweise in den Blickpunkt rückt und man darüber – so das heute gängige Argument – nicht vergessen darf, dass es sich hier noch um eine Spätfolge des Ersten Weltkrieges handelt, womit dann wieder die Frage der deutschen Alleinschuld thematisch wird. Boschmann lässt sich auf diese Diskussion nicht ein. Mehrdeutig heißt der Untertitel seines Buches „Ein Jahr spricht für sich“. Mit anderen Worten: Bevor wir die üblichen Etiketten der Geschichtsdebatten verteilen und vor falschen Schlüssen warnen, lassen wir doch mal die Zeitzeugen für sich sprechen. Denn wer Geschichte verstehen will, sollte erst einmal lernen, gut zuzuhören.
Werner Boschmann ist seit über 40 Jahren eine feste Größe in der Kulturszene des Ruhrgebiets. Als Historiker, Autor, Herausgeber und Aktivist hat er sich immer wieder an verdrängte und abgelegene, oft auch unbequeme Themen herangemacht, vom ersten „Lexikon der Ruhrgebietssprache“ über das Aufspüren Bottroper Juden, die in den 1930er Jahren nach Palästina geflüchtet waren. Er ebnete ihnen psychologisch und praktisch die erste besuchsweise Rückkehr in ihre Heimatstadt und veröffentlichte ihre Erinnerungen in einer Stadt, die gern so tat, als habe die Judenverfolgung bei ihr gar nicht stattgefunden. „Ruhrbesetzung 1923“ fügt sich gut ein in sein langes Lebenswerk, in dem er sich die Themen nie hat vorgeben und nie verbieten lassen, keinem Trend gefolgt ist und, gottlob, doch seine Leserschaft gefunden hat.
Werner Boschmann (Hrsg.): Ruhrbesetzung 1923. Ein Jahr spricht für sich. Henselowsky Verlag. 208
Seiten, ISBN-13: 978-394856-618-0, EUR 19,80
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