Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art“, so beginnt Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“. Ob das immer so zutrifft, sei dahingestellt; die zersplitterte Familie, die der niederländische Schriftsteller Daan Heerma van Voss in seinem neuen Roman umkreist – drei erwachsene Kinder und die geschiedene Ehefrau des 78-jährigen Filmemachers Oskar, der plötzlich auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol tot zusammenbricht –, ist jedenfalls keine glückliche mehr.
Die drei Geschwister haben nur noch losen Kontakt untereinander und kümmern sich auch zu wenig um ihre getrennten Eltern. Tessel, die älteste Tochter (Jahrgang 1981), Ehefrau, Mutter einer Tochter und erfolgreiche Schriftstellerin, allerdings mit momentaner Schreibblockade, war bei der Scheidung der Eltern bereits ausgezogen. Moor, das mittlere Kind (Jahrgang 1985) und als einziger Sohn einer besonderen Erwartungshaltung des Vaters ausgesetzt, kommt mit seinem Leben nicht wirklich zurecht.
Zusammenkommen im alten Haus
Er versucht sich in diversen Tätigkeiten und der Sinnsuche in Reisen und asiatischen Philosophien und lebt spartanisch in einem klapprigen VW-Bus auf dem Grundstück seiner Freundin, „unterstützt“ von Marihuana und Alkohol. Cat, die jüngste Tochter (Jahrgang 1989) und Liebling des Vaters, studiert in New York mit einem demnächst auslaufenden Stipendium Psychologie, Thema: Sigmund Freud, und „regelt“ ihr Liebesleben mit möglichst unverbindlichen Beziehungen. Die Mutter Elise hat nach ihrer gescheiterten großen Liebe zu Oskar nach Jahrzehnten in einem Verehrer aus Schulzeiten einen neuen Lebensgefährten gefunden, der ihr – anders als sein Vorgänger – jeden Wunsch von den Augen abliest.
Vier Menschen mit einem eigenen Leben, miteinander verbunden als Teil einer Familie, deren ehemaliges „Oberhaupt“ nun plötzlich auf dem Weg in den Urlaub einem Herzinfarkt erliegt. Sie kommen in dem alten Haus der Familie zusammen, um die anstehenden Aufgaben zu verteilen: die Erfüllung des Testaments, die Organisation von Trauerfeier und Beisetzung, die Auflösung des Haushalts, und versuchen, dem schweigsamen und distanzierten Vater und Ehemann anhand seiner Hinterlassenschaft näherzukommen, jeder für sich und im Austausch mit den anderen. Aufbrechenden Gefühlen, Erinnerungen an Verletzungen und Missverständnissen begegnen die Familienmitglieder je nach Temperament mit Sarkasmus, Zorn und Tränen, die einer tiefgreifenden Trauer um den Verlust und die verlorenen Chancen einer wirklichen Auseinandersetzung Platz machen.
Nötige Distanz zur bedrohlichen Welt
Nach und nach erfährt der Leser die Details einer schweren Kindheit mit einem belastenden Geheimnis, über das der junge Oskar nie hatte sprechen können, nicht einmal mit Elise, der Liebe seines Lebens – es gab nur einmal die Andeutung einem Studienfreund gegenüber. Oskar flüchtete sich als Kind ins Fotografieren und später ins Filmemachen, das ihn bis nach Hollywood brachte. Die Kamera schuf die nötige Distanz zur bedrohlichen Welt und gab ihm Sicherheit.
Dem Autor ist auf fast 500 Seiten ein dichtes Familienbild gelungen, das kaleidoskopartig die Mosaiksteinchen eines in sich schlüssigen Lebens zusammenfügt, dem er sich in konzentrischen Kreisen nähert. Drei Teile hat das Buch: „Liebe und Leid“, „Traum und Tat“, „Haus und Herd“, in denen alle Personen zu Wort kommen; „Intermezzi“ eines „Ich-Erzählers“ geben Begebenheiten zum Hintergrund des Geschehens wieder.
Der 1986 geborene Daan Heerma van Voss hat geschickt autobiografische Elemente in seine kunstvoll komponierte Geschichte eingewoben. Dass Oskar ausgerechnet auf einem Flughafen stirbt, wird vom Sohn als Ironie seines Lebens bezeichnet – Oskars Großvater war Flugpionier, genau wie des Schriftstellers Ururgroßvater Sybrand Heerma van Voss, ein als „Zuckerbaron“ bekannter Industrieller und leidenschaftlicher Vorreiter der modernen Luftfahrt im 19. Jahrhundert. Und der Vater des Autors, der niederländische Schauspieler und Journalist Arend Jan Heerma van Voss, starb 2022, ihm ist der Roman gewidmet.
Eine weitere Familiengeschichte? Ja, aber sehr lesenswert und großartig erzählt – und es ist nicht nur jede unglückliche Familie anders unglücklich, auch jedes Mitglied einer Familie ist wichtig und unverwechselbar, so wie jeder Mensch einzigartig ist. Tessel, die älteste Tochter, möchte über einen „allwissenden Erzähler“ schreiben, über die „innige Verbindung zwischen dem allwissenden Erzähler und Gott, die Instanz, die nicht nur allmächtig, sondern auch allwissend ist. Ohne allwissenden Gott keine Religion, ohne Gott kein allwissender Erzähler.“ Sie sieht ihren „allwissenden Erzähler“ und damit Gott als Brücke zwischen den Menschen und als Inspiration für ihre Texte. Und sie braucht ihn, „um zu illustrieren, dass jedes Leben, so klein es auch sein mag, etwas Episches, etwas Großes, in sich hat (…). Wenn man richtig hinzusehen vermag.“
Daan Heerma van Voss: Heute kein Abschied, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Zürich: Diogenes Verlag, 2025, 496 Seiten, Leinenbindung, EUR 26,–
Die Rezensentin hat über 30 Jahre bei den Berliner Festspielen gearbeitet. Sie lebt als freie Kulturjournalistin in Berlin.
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