Es ist sicher eines der großen Geheimnisse der Musik: die Menschen werden andere beim Zuhören, wenn sie im Innersten getroffen werden. Ein Erlebnis, das ganz sicher auch vielen Hörern der Songs von Bob Dylan zuteil wurde, so ungefähr 600 hat er veröffentlicht und wegen seiner literarischen Lied-Texte 2016 den Nobelpreis für Literatur bekommen, ganz in der Homer´schen Tradition der „oral history“, der mündlichen Überlieferung von Geschichten.
Sein eigenes musikalisches Werk hat der Künstler in seinem dritten Buch „Die Philosophie des modernen Songs“ allerdings nicht zum Thema gemacht, es geht ihm um 66 Songs, die ihn geprägt und fasziniert haben. Zwölf Jahre hat Dylan an diesem Band gearbeitet, entstanden ist ein üppig bebildertes Buch mit mal kürzeren, mal längeren Geschichten zu den ausgewählten Songs: knappe Inhaltsbeschreibung, in der er häufig die vom Sänger verkörperten Protagonisten direkt anspricht, dann die Interpretation des Meisters. Das klingt nach einem trockenen Nachschlagewerk, ist aber ganz und gar nicht der Fall.
Er muss niemandem etwas beweisen
„I´m good with words“ hat er mal von sich gesagt, und das ist eher bescheiden formuliert – der Mann schreibt großartig. Geschult an seiner Radioshow „Theme Time Radio Hour“, in der er zwischen 2006 und 2009 thematisch geordnete Schwerpunkte verhandelte, untermalt mit Musik und deren Interpretation, trifft er in den komprimierten Buchtexten den Kern der Songs.
Die meisten der auserkorenen Titel stammen aus den 1950-er und frühen 1960-er Jahren, da war Bob Dylan ein empfänglicher Teenager beziehungsweise junger Mann, manche Songs sind noch älter, während es aus der neueren Zeit nur sehr wenige gibt. Das jüngste ist von 2004 („Nelly was a Lady“ von Alvin Youngblood Hart) – ob man das dann „modern“ nennen sollte, kann man sich fragen – es spielt aber keine Rolle, es sind eben die Lieblingsstücke eines der bekanntesten Musikers der Welt, der niemandem etwas beweisen muss und schon immer gemacht hat, was er wollte.
Bob Dylan erklärt, was genau ihn ins Herz getroffen hat vom Text oder der Interpretation, und das bindet er ein in die Geschichte der Entstehungszeit.
Es sind für die meisten heutigen Ohren unbekannte Titel, auch wenn Elvis Presley, Pete Seeger, Willie Nelson, Nina Simone, Dean Martin und Frank Sinatra Kapitel gewidmet sind. Die Sammlung startet mit „Detroit City“ von Bobby Bare mit dem tollen Anfangssatz „In diesem Song bist du der verlorene Sohn“ und endet mit „Where or When“ von Dion: „Das ist ein Song über Wiedergeburt“, womit gemeint ist, dass sich immer alles wiederholt, seit Anbeginn der Menschheit, „derselbe alte Song, dieselbe alte Melodie, dieselben Rätsel – dieselbe Schlacht kämpfen“.
Hiob eines der „inspirierendsten“ Bücher
Das klingt bei dem 81-jährigen Autor aber nicht resignativ oder müde, es liegt für ihn etwas Tröstliches in dieser Erkenntnis – man ist Teil einer von Menschen bewohnten Erde, einer Schicksalsgemeinschaft. Und dem Schicksal kann man nicht entfliehen, man muss es annehmen. Dass die Bibel eines der wichtigsten Bücher für den geborenen Juden und später getauften Robert Zimmermann darstellt, wissen wir aus seinen eigenen Texten, und auch hier verdeutlichen religiöse Metaphern die Songinhalte: „Menschen wenden sich unter anderem deshalb von Gott ab, weil Religion in ihrem Leben keine Rolle mehr spielt... Früher dagegen war Religion im Wasser, das wir getrunken haben, sie lag in der Luft, die wir geatmet haben.“ („If you don? know me by now“).
Das Buch Hiob ist für Dylan dank der Wette Gottes mit Satan, ob Hiobs Frömmigkeit im Angesicht fortgesetzter Prüfungen standhalten würde, „eines der aufregendsten und inspirierendsten des Alten oder Neuen Testaments“.
„My Prayer“ von „The Platters“ animiert ihn zum Nachdenken über andere Prayer-Songs, gipfelnd in dem Satz: „Der tollste Prayer-Song von allen ist natürlich das Vaterunser, ,The Lord? Prayer‘. Keiner von diesen Songs hier kommt da auch nur annähernd heran.“
Die vielleicht ergreifendste Geschichte gehört John Trudell und seinem Song „Doesn? hurt anymore“. („Dies ist der Song des Leidenden, er dringt zum Kern der Sache durch.“)
Trudell, 1946 als Santee Dakota in Nebraska geboren, Mitglied der US Navy und Teilnehmer am Vietnamkrieg, wurde später zum Vorsitzenden des American Indian Movement. Wenige Stunden, nachdem er im Februar 1979 eine Rede vor dem FBI-Hauptquartier in Washington D.C. gehalten hatte, fielen Brandbomben auf seinen Trailer im Reservat, jemand hatte vorher die Tür mit einem Vorhängeschloss versperrt. Trudells schwangere Frau, seine drei Kinder und seine Schwiegermutter verbrannten. Die Brandstifter wurden nie gefasst.
John Trudell rettete sich ins Schreiben von Gedichten, die er zu Livemusik sprach. „Leid und Leid allein ist in einem sehr realen Sinne das Einzige, was uns wahrhaftig verbindet. Wir alle kennen Trauer, egal, ob reich oder arm. Es geht nicht um Reichtum oder Privilegien – es geht um Herz und Seele, und es gibt Menschen, denen beides fehlt.“
Bob Dylan hat Herz und Seele, und möglicherweise hätten wir John Trudell ohne ihn nie kennengelernt.
Amerikanisch, aber von schlichter Schönheit und Erkenntnis
Von der Art sind die Geschichten, die man nicht vergisst, hat man sie einmal gelesen und sich die Musik dazu angehört (die komplette Liste gibt es auf Spotify). Natürlich kann man Bob Dylan vorwerfen (und tut das auch), dass er zu wenig Frauen vorstellt und dass wichtige Interpreten fehlen – keine Joan Baez, keine Patti Smith, kein Leonard Cohen, und Paul McCartney kommt nur als Foto vor. Aber umso interessanter ist es doch, sich mit den unbekannten Songs zu beschäftigen, die den so ungemein produktiven Künstler Dylan beeindruckt haben und auch gleich die Erklärung dafür mitgeliefert zu bekommen.
Und die Philosophie? Die steckt in den Nebensätzen dieses außerordentlich belesenen Mannes, und dass sie sich öfter in christlichen Gedanken äußert, mag auch nicht jedem Kritiker gefallen.
Es ist ein sehr amerikanisches Buch, gleichzeitig von schlichter Schönheit und von tiefgreifender Erkenntnis über die Zusammenhänge des Lebens. Und politisch gänzlich unkorrekt.
Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs; übersetzt von Conny Lösch, C.H. Beck Verlag 2022, 352 Seiten mit rund 150 Fotos, EUR 35,–
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