Schon im knappen Titel wird klar, worum es in diesem beachtlichen wie umfangreichen Opus eines anonymen Dominikaners geht, wenn es dort salopp heißt „Tractatus contra Graecos“ – zu Deutsch: „Traktat gegen die Griechen“. Bei aller theologischen Argumentation voller gedanklichem Tiefgang bestimmen vor allem konfessionelle Polemik und Spitzfindigkeiten diese Schrift aus dem Jahr 1252, die von der Kirchenhistorikerin Andrea Riedl dem Publikum in einer aktuellen Übersetzung jüngst zugänglich gemacht wurde.
Die Veröffentlichung des lateinisch verfassten Traktats fiel mitten in eine überaus aufgeheizte Phase der Beziehungen zwischen der lateinischen West- und der byzantinischen Ostkirche. So haben die Eroberung Konstantinopels durch das lateinische Kreuzfahrerheer 1204 und die Errichtung des Lateinischen Kaiserreichs von Konstantinopel von 1204–1261 aus heutiger Perspektive das große Schisma von 1054 in seiner kirchlichen Binnenwirkung zusätzlich verschärft und das Klima zwischen den Kirchen noch nachhaltiger verschlechtert als die Geschehnisse von 1054.
Dogmatische Differenzen mit spitzer Feder ausgetragen
Genau in diese Hochphase der kirchlichen Entfremdung zwischen West und Ost hinein ist dieses Werk konzipiert. Es avancierte in der Folgezeit auch aufgrund seiner ausgeprägten Systematik zu einer qualifizierten Quellensammlung und Argumentationshilfe für die lateinischen Akteure. Gleichzeitig dokumentiert der Band für die Nachwelt, mit welch spitzer Feder dogmatische Differenzen zu jener Zeit argumentativ und rhetorisch ausgetragen wurden.
In der Einleitung ordnet die Herausgeberin das Werk in den kirchenhistorischen Hintergrund ein, skizziert jedoch auch das Besondere des Traktats aus dem Blickwinkel der heutigen Ökumene. Ausgangslage ist die Einschätzung beider Seiten, wonach die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ nur noch in der jeweils eigenen Kirche verwirklicht sei und die „abtrünnige“ je andere Seite unbedingt in den Schoß der eigenen Kirche zurückzuführen sei. Dieses ekklesiologische „reductio“-Verständnis war Allgemeingut – und ist es im Zweifel trotz aller Annäherung bis heute.
Wichtigste Informationen über die Konfliktthemen
Dem Traktat von 1252 kommt das Verdienst zu, die katholische Position zu den großen Streitthemen vom Filioque über das Fegefeuer bis zum päpstlichen Primat in bis heute gültiger Deutlichkeit formuliert und begründet zu haben.
Das Werk stammt von einem anonymen Dominikaner, der von der Autorin als „hochgebildeter und äußerst sprachkompetenter Autor“ charakterisiert wird und dem noch jungen Konvent von Konstantinopel angehörte. Dieser bereitet die wichtigsten Informationen über die Konfliktthemen zwischen den beiden Kirchen argumentativ auf. Auch wenn die dabei zelebrierte Rhetorik und Kontroverstheologie im Tonfall heute aus der Zeit gefallen wirkt, ist das Werk trotzdem höchst veröffentlichungswürdig und lesenswert.
Die Herausgeberin sortiert das voluminöse Opus selbst in die Gattung der Polemik mit „harschen gegenseitigen Zuschreibungen und Vorwürfen“ ein, macht aber auch völlig zu Recht deutlich, „dass heutige Vorstellungen, Ziele und Umgangsformen des ökumenischen Dialogs bei redlichem Zugang genauso wenig auf das Mittelalter angewandt werden können, wie mittelalterliche Diskurse auf etwa die Spätantike rückprojiziert werden dürfen.“
Der „Traktat“ ist deshalb von ökumenischer Bedeutung, denn „die Alternative wäre, Geschichte zu vergessen, historische Entwicklungen zu ignorieren und nur solche Texte zuzulassen, die unsere heutigen Befindlichkeiten im Hinblick auf ökumenische Errungenschaften nicht stören“.
Eine Form der Disputatio
Dass das Werk anonym erscheint, ist nicht weiter verwunderlich. Es ist eine Auftragsarbeit des im Westen ausgebildeten und im Osten lebenden Autors auf Bitte seiner Mitbrüder im Konvent, die sich davon eine dominikanische Perspektive zum Umgang mit der byzantinischen Kirche und Theologie erwartet haben. Und der Ordensbruder liefert.
Er kann Griechisch, was ihn in die Lage versetzte, die Werke der griechischen Theologen sowie Quellen aus griechischen Archiven und Bibliotheken im Original zu lesen und zu verstehen. Seine Methode ist klassisch. Er stellt den 15 Themenblöcken, die er behandelt, immer die „griechische“, also ostkirchliche, Position ausführlich vorneweg, um diese dann kritisch zu reflektieren und anhand der „lateinischen“ – also der richtigen und wahren – Position zu widerlegen.
Der Übersetzerin zufolge trägt das Werk „als frühester uns bekannter Text des lateinischen Westens Spuren dessen, was sich kurze Zeit später als Allgemeingut auf der Agenda der (…) Unionskonzilien von Lyon und Ferrara-Florenz wiederfindet“. Vor allem die klassischen vier theologischen Streitpunkte – das Filioque, die Frage nach der Materie des eucharistischen Brotes (gesäuertes oder ungesäuertes Brot), die Differenz über das Fegefeuer und die ekklesiologische Frage nach dem Vorrang Roms und der römischen Kirche vor den Kirchen des christlichen Ostens – werden hier erstmals systematisch bearbeitet mit Argument und Gegenargument.
Zum zweiten gehe es vor allem infolge der universalen päpstlichen Ansprüche von Innozenz III. (1198–1216) um die Kräfteverhältnisse zwischen West und Ost und die universalkirchliche Vorrangstellung des Papstes als Oberhaupt der gesamten Kirche. Der Dominikaner versucht, diese Ansprüche argumentativ durch Schrift, Tradition und Vernunft zu verankern.
Die besondere Pointe
Der Autor gliedert seinen „Tractatus“ in zwei Teile mit insgesamt 15 einzelnen Abschnitten. Der Hauptteil besteht aus sechs, der zweite Teil aus neun Abschnitten. Dabei kommen im Hauptteil neben den vier Hauptkontroversen auch die außertheologischen Gründe des Schismas zur Sprache. Im Appendix wiederum geht es unter anderem um die Konziliengeschichte, die „Apostolischen Canones“, das Glaubensbekenntnis von Nizäa und die Exkommunikationen des Jahres 1054. Die konzentrierte Zusammenfassung aller Abschnitte durch die Übersetzerin in der Einleitung erweist sich als hilfreich.
Die besondere Pointe in der Argumentation des dominikanischen Theologen besteht in der Absicht, darzustellen, dass die eigenen Autoritäten der Byzantiner – die Heilige Schrift, die Konzilien und vor allem die griechischen Kirchenväter – als Garanten der Wahrheit die Positionen der Lateiner stützten und selbst lehrten.
Sein Ziel ist es zu zeigen, „wie der Starrsinn der Griechen anhand ihrer eigenen Bücher erwiesen werden kann“. Schuld und Irrtum werden dabei klar verteilt, immer wieder ist von Lügen, Starrsinn und Fabeln der östlichen Theologen die Rede. Der Dominikaner bietet hier Säbel statt Florett und liefert doch zugleich eine erstklassige wie umfangreiche Quelle zur Theologiegeschichte und zur argumentativen Methodik spätmittelalterlicher systematischer Theologie.
Biblische und liturgische Argumentation
Immer wieder kommt eine zutiefst biblische und auch liturgische Argumentation zum Tragen. Tief ostkirchlich geprägt ist der Hinweis, dass die Glaubenssätze auch in der Liturgie singend bezeugt werden: „Die Bischöfe verkündeten in aller Deutlichkeit die Wahrheit des Glaubens, an der wir im Bekenntnis festhalten, und gaben die Weisung, dass in den Kirchen alle diesen Glauben in der Liturgie singend bezeugen sollten.“
Gelegentliche Vereinfachungen fallen auf. Wenn der Autor etwa das späte Hinzufügen des berühmten Filioque zum Glaubensbekenntnis mit den Worten erklärt: „Die heiligen Väter haben es nicht in das Glaubensbekenntnis aufgenommen, weil sie nicht im Geringsten daran zweifelten. Sie nahmen nämlich nur in das Bekenntnis auf beziehungsweise schrieben nur in den Synoden fest, was von den Häretikern verdreht und in Zweifel gezogen wurde und was die Welt oder die ganze Kirche in den Irrtum führte. (…) Da es damals aber nicht in Frage oder Zweifel stand, ob der Geist aus dem Sohn hervorgeht oder nicht, übergingen es die heiligen Väter in Schweigen“.
Die Bedeutung des päpstlichen Primats
Von grundlegender Bedeutung ist durchgehend die Frage der Anerkennung des päpstlichen Primats und damit das Problem der kirchlichen Macht. In den Worten des Dominikaners geht es dabei um „den Nachweis des Gehorsams und der geschuldeten Ehrerbietung gegenüber der römischen Kirche“. Er macht dies an drei Fragen fest: von wem die römische Kirche diese Macht erhalten habe, wann sie diese Macht erlangt habe und ob sie diese Macht über die Gesamtheit aller Kirchen oder lediglich über einige Teilkirchen ausübe.
Dazu kam die Frage, ob der Papst von Rom die Fülle der Macht für sich allein beanspruchen könne, was der Dominikaner natürlich bejaht, denn „hinter dem Rücken des obersten Pontifex“ oder ohne dessen Zustimmung könne nichts geschehen; auch Konzilsbeschlüsse könnten ohne die Zustimmung des Papstes keine Gültigkeit erlangen.
Zweifel an Rechtmäßigkeit des Patriarchats von Konstantinopel
Der „Tractatus“ bezweifelt sogar die Rechtmäßigkeit des Patriarchatssitzes von Konstantinopel und den Titel des Ökumenischen Patriarchen. So zähle Konstantinopel nicht zu den „apostolischen Sedes“. Die berühmte „Konstantinische Schenkung“ wird ausgiebig zitiert, die Klärung der Machtfrage im römischen Sinne zudem schon in den Beschlüssen des ersten Konzils von Nizäa verortet.
Der Dominikaner fragt: „Wie können die griechischen Zeitgenossen derart blind und abgestumpft im Geiste sein, dass sie behaupten, sie unterstünden nicht der Obödienz der römischen Kirche?“ Der römische Pontifex habe „ähnlich einem Fürsten“ Macht inne, die er von den Konzilien erhalten habe und auf den Konzilien ausübe. Er zieht den Schluss, dass der römische Pontifex das Haupt aller Kirchen bzw. der Gesamtkirche ist, (…); dass er der Nachfolger Petri und Stellvertreter Gottes auf Erden ist, dem die Gläubigen so wie dem Herrn selbst ergeben und demütig gehorchen sollen in allem, was gottgemäß ist.“
Gründe für das Schisma
Immerhin benennt der „Tractatus“ auch recht konkret Gründe für das Schisma: die Teilung des Römischen Reiches, die fehlende Einladung und Mitwirkung der Griechen am „ultramontanen Konzil“ der Synode von Aachen von 809, als das Filioque zum Glaubensbekenntnis hinzugefügt wurde, die „allzu übertriebenen Geldforderungen der päpstlichen Legaten“ an Konstantinopel – ganz zu schweigen „von ihrem Aufzug und Hochmut“, sowie die Absetzung und Exkommunikation des Patriarchen Photius.
Doch auch dies wendet der westliche Theologe gegen die Griechen: „genügt denn all dies, um ein derartiges Schisma, ja so viele verlorene Seelen zu rechtfertigen? Wohl kaum. Aber nach Gründen sucht, wer den Freund verlassen will.“
Die Abschnitte des „Appendix“ bieten dann unter anderem eine Konzilsgeschichte aus der Perspektive des Dominikaners und eine kritische Sicht auf die für die Ostkirche so wichtigen altkirchlichen Canones, denen er innere Widersprüche nachweisen will. Auch hier gilt wieder, „dass kein Canon irgendeine Wirkkraft oder Festigkeit besaß, wenn er nicht zugleich durch die Gunst und Zustimmung des höchsten Pontifex unterstützt wird.“
„Versammlung der Häresiarchen“
So sei die einstige „Zierde der Kirche der Griechen“ nun „getrübt durch das Dunkel der Irrtümer“, sodass sie nicht mehr „Kirche der Glaubenden“, sondern „Versammlung der Häresiarchen“ zu nennen sei. Den Ersthierarchen der Griechen wird zudem Simonie unterstellt, „da sie ohne Geldzuwendungen niemandem Kirchenräume anvertrauen“.
Selbst die orthodoxen Mönche kriegen ihr Fett ab. Sie „streunen wie die Tiere zu einzelnen Stunden außerhalb der Klausur umher, und sie essen mitten auf der Straße. (…) Es zieht sie in die Wirtshäuser, und in heißem Wein soll das Gegessene in den Verdauungstrakt geschwemmt werden.“
Auch an der orthodoxen Praxis der Scheidung und Wiederheirat übt der Dominikaner heftige Kritik: „Frauen wie Männer gehen leichtfertig mit dem Sakrament der Ehe um.“ Ebenso an der Priesterehe und der Wiedertaufe bei Konvertiten. Selbst wenn sich im zweiten Teil manches wiederholt, so sind auch diese Ausführungen lesenswert und lehrreich zugleich.
Fontes Christiani: Tractatus contra Graecos/Traktat gegen die Griechen, Lateinisch-Deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Andrea Riedl, Freiburg: Herder, 2024, gebunden, 447 Seiten, EUR 55,–
Der Rezensent ist evangelischer Pfarrer.
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