Die vom Wort Gezeugten haben das Wort“ / „Verbo geniti verbum habent“, sagte Bernhard von Clairvaux. Wenn das Wort (Joh 1,1) mitläuft, gelingen die Worte. Ein großer Satz, und nicht oft löst er sich ein in der zeitgenössischen deutschen Literatur. Wenn nämlich das Wort gelingt, ist es mehr als ein Beschreiben, es ist Freilegen, Öffnen oder auch Verbergen des Menschen in der Welt, es ist Sich-Einrichten in der Welt, auch Sich-Absperren von ihr. Eine junge Dresdner Autorin versucht das Überraschende: die Sprache des Alltags zu sprechen und darin die Not und das Glück des Lebens, der Liebe zu treffen. Es gelingt gut, oft sogar sehr gut.
Das tief gefährdete, erstaunlich gerettete Menschliche
Alexandra Grüttner-Wilke, geboren im Eichsfeld an der DDR-Grenze, aufgewachsen in Plauen im Vogtland, studierte Literatur- und Erziehungswissenschaft und Religionsphilosophie, lebt jetzt mit Mann und drei Söhnen in Dresden. Als noch junge Frau ist sie schon durch Gedichtbände aufgefallen, hat mit Erfolg an Literaturwettbewerben teilgenommen, eine Erzählung von ihr wurde szenisch aufgeführt. Nun liegt ein Band mit sechzehn Erzählungen vor, verlegt in dem aufstrebenden jungen Dresdner Verlag „text & dialog“. Schon die einzelnen Titel sind reizvoll: Hölderlins Hunde; Eisheilig; Blickdicht; Dornröschen; Blaue Scherben; Die Brunnenprinzessin; An ihrer, seiner, meiner statt…
Die Themen kreisen um das tief gefährdete, immer wieder erstaunlich gerettete Menschliche. In der dunklen, zuweilen sehr dunklen Schicht ist es: Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben, Verlust eines geliebten Menschen, mangelnde Erfahrung geliebt zu werden, Aufwachsen bei der alkoholkranken Mutter und dem wortkargen Vater, Scheu vor dem anderen, Scheu vor dem Sprechen, Verlust eines ungeborenen Kindes, Leben mit einer depressiven Mama, das Leiden einer Leihmutter… In der hellen und wundervollen Schicht ist es: Getragenwerden vom Geliebten, Lebendigwerden mit Kindern, zögerndes Zurückfinden ins Leben, Blühen und Schönsein, Glück einer Schwangeren, einander Verzeihen, sich in Worten finden und geben können.
Das sind trockene Angaben, die die ungewohnt dichten Erzählungen nur andeuten. Besonders auffällig: Dass die Geschichten anfänglich mit knappen Hinweisen und Namen erst ein Rätsel aufspannen, im Fortgang in die Verworrenheit oder auch in die freundlichen Facetten des Rätsels deutlicher hineinziehen, sich am Ende in eine Lösung fügen oder in Trauer verschließen. Große Erzählkunst.
Das Verbrechen an der Leihmutter in der Ukraine
Einige Beispiele: „Das Experiment“ berichtet aus der Sicht einer ukrainischen Leihmutter über die schwierige Geburt eines deutschen Jungen, dessen eines Ärmchen beim Geburtsvorgang gequetscht wurde und sich nicht richtig entwickelt. Die „eigentlichen“ Eltern haben über Video der Geburt beigewohnt, wollen den Jungen aber wegen des Ärmchens nicht abholen. Er wird wie die anderen Babys nach Vorschrift versorgt, darf aber nicht besonders betreut oder gar in den Arm genommen werden. In der Leihmutter, die zwei eigene Kinder hat und mit dem „Leihgeld“ ernähren muss, wächst die Empfindung, dass der Junge etwas braucht, das sie ihm nicht geben darf: ein Nest, Liebe, sogar einfach nur einen Blick, ein paar Blicke. Eines Tages ist er mit anderen nicht abgeholten Babys anderswohin verfrachtet worden. Sein Bettchen ist leer. Das ist ganz unsentimental erzählt, und gerade das Sachliche daran ist erschütternd. Nirgends taucht eine Moral auf, aber die Sache spricht: An dem Kind geschieht ein Verbrechen. An der Frau wird etwas totgeschlagen.
„Dornröschen“ meint eine Frau, die tageweise „in ein Schloss geht“, in das niemand ihr folgen kann. Sie liegt auf ihrem Bett, bewegungslos, oder weint. Ihr kleiner Sohn muss an solchen Tagen nicht in die Kita gehen und darf (gerne) bei ihr bleiben, gibt ihr eine Tablette und zu trinken, wenn sie den Mund aufmacht, spielt neben ihr; abends kommt Papa und kümmert sich um sie. Das Kind weiß von der unüberwindlichen Dornenhecke um die Mutter und hofft auf die anderen Tage, wo sie aufwacht und lebendig wird… Und dann doch wieder ins Schloss geht.
Ähnlich unaufdringlich und gleichzeitig bewegend die Erzählung vom sechsjährigen Friedel, der an der alten DDR-Grenze aufwächst, dessen Vater die Grenzpolizei befehligt, andere bespitzelt und den Mauerfall als Untergang seiner Welt erleben muss. Aus der Perspektive des Kindes zerfällt alles rätselhaft, die Eltern lassen ihn plötzlich allein zurück (zeitweise?), nur mit einem Tisch voller Essen, sie verschwinden, um sich zu retten – werden sie ihn wieder holen? Das Kind geht sicher davon aus, aber die Frage bleibt beängstigend offen. Wo ist die Wende in solcher Kürze in ihrer Alltags-Verschiebung beschrieben worden? Es ist geradezu ein Kürzel des Mauerfalls, von der Seite des Verlierers, eines Kindes, aus geschildert.
Gelingen im Misslingen, strömend Lebendiges
Oder die Geschichte der jungen schwangeren Frau, die ihren kaum gekannten, vermutlichen Vater im Krankenhaus vor dem Tod besucht, von ihm fast nichts weiß, dort nur den rätselhaften Namen „Marka“ unter Anstrengung von ihm ausgesprochen hört, dann eine Postkarte mit dem Aufdruck „Censtochowa“ findet und irgendwie von einer polnischen Großmutter hörte… Lauter verwischte Spuren, die sich nicht mehr aufhellen lassen. Woher kommt die junge Frau? Was kann sie ihrem Kind später von seinem Ursprung erzählen? Wer ist sie überhaupt? Unentwirrbare Rätsel. Doch will sie eines Tages zu der Frau mit dem dunklen verwundeten Gesicht im Goldkranz fahren, das auf der Postkarte zu sehen ist.
Dann die Erzählung am Schluss, unbeschreiblich hell und sicher geschrieben. Autobiographisch steht am Beginn die Einladung an die junge Mutter und Autorin, einen Beitrag für eine Zeitschrift über „Elternschaft und Freiheit“ zu schreiben, natürlich mit dem erwarteten Unterton: Elternschaft sei die restlose Einbuße an Freiheit, mit den üblichen Beispielen von Nachtwachen, verpatzten Urlauben, Überforderung, Quengeleien, kleinen Unfällen, wo man sie gar nicht brauchen kann.
Stattdessen anderes. Zunächst zwar ähnliche Reibereien auf der Reise zum Gardasee, aber dann wächst unwiderstehlich die Freude an allem und jedem, einfach weil es ungewohnt ist; es kommt das viele Unvorhergesehene, das die Pläne durchstreicht; das endliche Ausschlafen; das herrlich Fremde und Neue in den Bergen; das dritte ungeborene Kind wird von den beiden anderen zärtlich erwartet; darin wacht die Erinnerung an ein erstes verlorenes Geliebtes auf.
Treffsicher geschrieben
Nichts wird beschönigt, ebensowenig wie bei den anderen Erzählungen, immerfort gibt es die kleinen Abstürze. Aber in der Einfachheit der Schilderung schlägt die Freude durch, das Gelingen im Misslingen, das strömend Lebendige. „Ganz gleich, was über das Leben mit Kindern geschrieben wird, ob über die Mühen und Herausforderungen, die sie mit sich bringen, oder das lebendige Glück, das sie bedeuten, es taugt nichts, wenn es nicht bekennend zuläuft auf das Wesen der Liebe im innersten Punkt, auf die tiefere Freiheit, die dort mit ihr aufwächst, die Freiheit von der übersteigerten Angst um sich selbst.“ So der letzte Satz. Und zuvor schon: „Das Kind, unser Kind (…) brachte mit seiner Lebendigkeit unser eingerichtetes Leben durcheinander, brach Unwichtiges schmerzhaft ab, schaufelte strömendes Leben unter Abgestorbenem treffsicher hervor.“
Wer so schreiben kann, selber treffsicher, gehört in die vordere Riege der deutschen Gegenwartsliteratur. Es ist nicht nur der Inhalt des Erzählten, es ist die Kunst der Andeutung, des Schwebenden, des Unausgesprochenen, die Kunst eines Wortes, das sehen lässt, auch wo es verschweigt. „Die vom Wort Gezeugten haben das Wort.“
Alexandra Grüttner-Wilke: Wo Du (nicht) sprichst. Mit Zeichnungen von Janina Schünemann. Verlag text & dialog, Dresden 2023, 282 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-943897-70-8, EUR 19,90
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