Über Jahrzehnte gehörte er zu den prägenden Gesichtern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Sigmund Gottlieb war 22 Jahre Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens. Über ein Vierteljahrhundert sprach er regelmäßig den Kommentar in den „Tagesthemen“. Der Journalist stand dabei mit seiner konservativen Grundhaltung für ein Meinungsspektrum, das heute bei ARD, ZDF & Co nahezu brachliegt. „Wo ist der Sigmund Gottlieb 4.0“?“, fragte Frank Plassberg, der langjährige Moderator von „Hart aber fair“, als er Ende letzten Jahres seine Sendung abgab. Ein Problem, das die Programmverantwortlichen umtreiben müsste, wenn sie der Vertrauenskrise, unter der der ÖRR seit geraumer Zeit leidet, entgegenwirken wollen.
Sorge um die Demokratie
Den Original-Gottlieb seinerseits, mittlerweile 71 Jahre, muss das nicht weiter kümmern. Er ist auch im Ruhestand immer noch der Alte: Meinungsstark wie eh und je hat er nun eine Rundum-Analyse der deutschen Politik vorgelegt. „Klartext zur Lage der Nation“ will er sprechen. Und der Titel seines Buches macht schon klar, dass sein Blick kritisch ist: „So nicht.“ Pointiert in seiner Argumentation, aber nie in der Gefahr, in bloße Polemik zu verfallen, beweist Sigmund Gottlieb, dass er sich zu den Mitgliedern im „Verein für deutliche Aussprache“ zählt und vor allem einem Grundprinzip verpflichtet weiß: dem gesunden Menschenverstand.
Gottlieb treibt die Sorge um die Demokratie um. Die politischen, medialen und wirtschaftlichen Eliten würden zwar immer noch den Eindruck erzeugen, wir lebten in einem Musterland. In Wirklichkeit aber sei Deutschland von Zerfall bedroht. Das Land habe sich zur „Nation der drei Affen entwickelt, die sich Ohren, Augen und Mund zuhalten“. Und auch in seiner Diagnose der Ursachen wird er deutlich: „Ich bin seit 40 Jahren Journalist und muss feststellen, dass die Verklebungen zwischen Politik- und Medienmenschen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer fester und unauflösbarer wurden.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel und „ihre bis ins linksliberale Lager reichenden journalistischen Sympathisanten“ hätten geradezu Perfektion darin entwickelt, bestimmte Themen zu Tabus zu erklären.
Die Folge: Sachliche Kritik werde marginalisiert oder gar als rechtslastig diffamiert. Dieses „große Schweigen“ müsse nun überwunden werden. Gottlieb nimmt dabei verschiedene Themenkomplexe in den Blick und liefert zunächst einmal eine Lagebeschreibung. Er diagnostiziert Bürokratismus und eine Trägheit, verursacht durch einen Jahrzehnte scheinbar selbstverständlichen Wohlstand, die dem eigentlich notwendigen Gründergeist entgegenstehe. Anhand zahlreicher Beispiele – von den Fehlern bei der Flutkatastrophe im Ahrtal bis zum Wahldebakel in Berlin – erklärt er, warum bei immer mehr Menschen sich der Eindruck einstelle, Deutschland sei zu einer großen Baustelle geworden.
Gottlieb schiebt in den analytischen Teil auch immer Aussagen von Menschen ein, die von ihren Alltagserfahrungen berichten. Die Spannbreite reicht vom Taxifahrer, der sein Herz darüber ausschüttet, dass, obwohl er jahrelang Tag- und Nachtschichten gefahren ist, seine Rente einmal nur 600 Euro betragen würde. Sei das gerecht? Bis hin zum jungen Abgeordneten einer Volkspartei, Namen werden natürlich nicht genannt, der freimütig zugibt, dass er ständig überfordert sei und überhaupt nicht über die Zeit verfügen würde, sich in komplexe Themen wie beispielsweise „Künstliche Intelligenz“ hineinzuarbeiten.
Als Königsdisziplin bleibt die Recherche
Durch die Wiedergabe solcher Aussagen macht Gottlieb seine Darstellung nicht nur lebendiger und lockert seine Analyse auf, er gibt auch einen Einblick in seine journalistische Arbeitsweise: Wenn man wissen will, wie das Land tickt, gilt es, genau hinzuschauen, aber vor allem auch hinzuhören. Und damit gibt Sigmund Gottlieb auch in gewisser Weise schon einen Vorgeschmack auf den Teil der Lagebeschreibung, der vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Aufgaben und die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besonders lesenswert ist.
Der Chefredakteur im Ruhestand warnt eindringlich vor den Gefahren eines Gesinnungsjournalismus. Gleichzeitig listet Gottlieb aber auch alle die Tugenden und handwerklichen Fähigkeiten auf, die aus seiner Sicht Journalisten mitbringen sollten, die ihrer Aufgabe gerecht werden wollen. So mahnt er eine „Dienstleistungspflicht“ an. Journalisten müssten in erster Linie das Ziel haben, das Informationsbedürfnis ihrer Leser, Zuhörer und Zuschauer zu stillen. Dazu zähle, differenzieren zu können: Es gehe darum, „verstehbar zu machen, was komplex ist; nahezubringen, was fernsteht; die Distanz zu wahren zu den Mächtigen und Nähe herzustellen zum Alltag“. Die Königsdisziplin, die zu solchen Ergebnissen führe: die Recherche. Es sei zu einer Unsitte geworden, noch nicht zu Ende recherchierte Geschichten auf den Markt zu werfen, aus Angst, ein Konkurrenzmedium könne schneller sein.
Schließlich: Fairness – Andersdenkende dürften nicht vorgeführt werden, „der Kehlkopf sollte nicht den Kopf beherrschen“. Und natürlich: der Mut, eigene Fehler eingestehen zu können. Man kann sich nur wünschen, dass Gottliebs Lagebeschreibung auch auf den Schreibtischen von einigen Intendanten Platz findet.
Sigmund Gottlieb: So nicht! Klartext zur Lage der Nation. Langen Müller, München 2022, 257 Seiten, ISBN 976-3-7844-3598-5, EUR 24,–
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