Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Buchrezension

Richard von Weizsäckers Rolle in der deutschen Politik

Nationalliberaler, Preußen-Verehrer und Exponent der „protestantischen Mafia“: Richard von Weizsäcker und seine Rolle in der deutschen Politik.
Richard von Weizsäcker und seine Rolle in der deutschen Politik
Foto: Nicole Maskus (imago stock&people) | Richard von Weizsäcker scheint als bundesrepublikanische Variante eines Nationalliberalen, dessen besondere Leistung darin besteht, seine weltanschaulichen Prägungen in die politische Kultur integriert zu haben.

„König Silberlocke“ wurde er genannt: Richard von Weizsäcker (1920-2015) war zwar Bundespräsident, für viele aber auch so etwas wie ein Ersatzmonarch. Dank seiner aristokratischen Erscheinung, seiner rhetorischen Eloquenz und seiner intellektuellen Nachdenklichkeit erfüllte er Sehnsüchte der Bevölkerung, die herkömmliche Politiker nicht stillen konnten: Freiherr, nicht Funktionär. Weizsäcker wurde auf diese Weise zu einer zentralen Figur der Bundesrepublik, ja, ist für seine Verehrer schon eine Ikone der politischen Kultur. Hier Helmut Schmidt ähnlich, dem er sich vor allem in seinen letzten Jahrzehnten verbunden wusste, viel stärker als seinem CDU-Parteifreund Helmut Kohl. Ein jetzt erschienener Sammelband zeigt nun neue Perspektiven auf die Rolle auf, die Richard von Weizsäcker in der deutschen Politik gespielt hat.

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Dabei wird deutlich, dass der Protestant, der sich vielfach in der EKD engagierte, unter anderem als Kirchentagspräsident, ideengeschichtliche Strömungen repräsentierte, die durchaus quer zu den Grundbedingungen standen, unter denen die westdeutsche Gesellschaft sich entwickelte. Weizsäcker war preußischer, gleichzeitig aber auch nationaler, sich stärker in der Kontinuität der deutschen Geschichte sehend als die Elite der Bonner Republik. Diese Prägungen verdichteten sich in einem ethischen Ideal, das zugleich auch Ausdruck seines protestantischen Glaubens war. Den Rahmen für alles das bildete aber sein Geschichtsbild, sein Blick auf die historische Entwicklung Deutschlands, aber auch ganz persönlich seine Familiengeschichte. Weizsäcker zog Kraft aus seiner Herkunft – und auf diesem Feld zeigt sich am stärksten die Ambivalenz, die diese Vita durchzieht.

In persönlichem Kontakt zum „Aufstands des Gewissens“

Der Bundespräsident, der mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes der bisher vorherrschenden Geschichtspolitik einen neuen Akzent gab, indem er den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ deutete, war aber auch der Sohn von Ernst von Weizsäcker, dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Joachim von Ribbentrop. Bei der Verteidigung beim Nürnberger Prozess half der junge Richard den Anwälten seines Vaters. Und dann ist da die Verbindung von Weizsäcker junior zum 20. Juli: Wie wohl kaum ein anderer zentraler Politiker der Nachkriegszeit, Klaus von Dohnanyi und Eugen Gerstenmeier vielleicht ausgenommen, stand er in persönlichem Kontakt zu Protagonisten des „Aufstands des Gewissens“. Mit Fritz-Dietlof von der Schulenburg, der von den Nazis hingerichtet wurde, war Weizsäcker befreundet. Bis zu dessen Tod war er sehr eng mit Axel von dem Bussche verbunden, der geplant hatte, sich mit Hitler in die Luft zu sprengen. So war der „20. Juli“ für Weizsäcker ein zentraler Erinnerungsort für die Deutschen und ihr politisch-kulturelles Selbstverständnis.

Über alle Jahrzehnte seines öffentlichen Wirkens wurde Weizsäcker nicht müde, die „Männer des 20. Juli“ als ethische Vorbilder zu empfehlen. Hier wird sein ethisches Leitbild erkennbar: Es geht um die Freiheit, dem Gemeinwohl zu dienen. Das Buch drückt dies durch seinen Titel aus, ein Zitat: „Die Freiheit geschieht nicht an uns, sie geschieht durch uns.“ Ein Satz, der auf einem evangelischen Kirchentag gesprochen werden könnte – Weizsäcker ist hier durchaus im Anschluss an Martin Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ zu verstehen. Und so erklärt sich auch Weizsäckers emotionale Bindung an Preußen, vor allem aber an den „Alten Fritz“ (Matthias Oppermann spricht in seinem Beitrag von einer schon fast schwärmerischen Verehrung, die bei Weizsäckers ansonsten eher kühlem Temperament besonders auffällig sei).

Friedrich II. habe sich als erster Diener seines Staates verstanden. Selbst im Krieg habe sich dieser jeden Tag schriftlich Rechenschaft über sein Tun abgelegt. Wer tue das heute noch, fragte Weizsäcker 2005 in einem Interviewbuch mit dem Journalisten Jan Roß. Freilich steckt dahinter natürlich auch eine Selbstverpflichtung: Weizsäcker wollte genau vor so einer Rechenschaftspflicht standhalten.

Die Nation muss dem Wettkampffeld übergeordnet bleiben

Er fühlte sich aus diesem Ethos heraus verpflichtet, bestimmte Kontinuitätslinien in der deutschen Geschichte herauszustreichen, auch dann, wenn sie Widerspruch auslösten. Auch seine Sympathie für die „Neue Ostpolitik“ stand nicht im Widerspruch zum Leitbild des deutschen Nationalstaats. Hier habe sich vielfach eine „nationale Realpolitik“ in der Tradition Gustav Stresemanns gezeigt, wie Matthias Oppermann betont. Gerade aus seinem Nationalbewusststein heraus ist Weizsäcker für „Wandel durch Annäherung“. Hier ist eine Episode aufschlussreich, die ebenfalls Oppermann in seinem Beitrag über das Verhältnis  zu Preußen und der Nation schildert: 1971 jährte sich zum 100. Mal die Reichsgründung, Bundespräsident Gustav Heinemann distanziert sich in einer Fernsehansprache vom Bismarck-Reich, da hier die demokratischen Ideale von der Idee des Nationalstaates getrennt worden seien, sein historischer Referenzpunkt ist das Revolutionsjahr 1848.

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Weizsäcker widerspricht im Bundestag: Man könne die „wahre Nation“ nicht mit der Verwirklichung der Demokratie gleichsetzen, „von der es etwa im Godesberger Programm der SPD heißt, dass sie sich im Sozialismus erfüllt“. Zwar sei nichts dagegen zu sagen, dass die Parteien unterschiedliche gesellschaftspolitische Ziele verfolgten, aber „die Nation muss diesem Wettkampffeld übergeordnet bleiben“. Überraschend ist nun eine Reaktion von links: SPD-Kanzleramtsminister Horst Ehmke, sicherlich nicht im Verdacht, ein besonderer Freund von Franz Josef Strauß zu sein, lobt nun ausgerechnet den CSU-Vorsitzenden und empfiehlt ihn Weizsäcker als Vorbild. Strauß, dies sei eines seiner wenigen Verdienste, verstehe im Gegensatz zu dem Freiherrn eine mögliche Wiedervereinigung nicht als eine bloße Rückkehr zum alten Nationalstaat. Und Ehmke fügt hinzu, er wisse gar nicht, ob die Nationalstaats-Skepsis von FJS auf dessen bayerische oder die katholische Prägung zurückzuführen sei. Jedenfalls schütze ihn genau diese Prägung vor dem Fehler Weizsäckers.

Nimmt man die einzelnen Beiträge in ihrer Gesamtschau, erscheint Richard von Weizsäcker als bundesrepublikanische Variante eines Nationalliberalen, dessen besondere Leistung darin besteht, seine weltanschaulichen Prägungen in die politische Kultur integriert und so insgesamt die Bundesrepublik stabilisiert zu haben. Die Ambivalenzen, die hier aufscheinen, waren kein Nachteil, sie waren vielmehr, wenn man so will, sein identitätspolitisches Kapital, das er in die Entwicklung der zweiten deutschen Republik einbringen konnte. Unterstützt wurde er dabei von einem protestantischen Netzwerk, Ralf Dahrendorf sprach von der „protestantischen Mafia“, das ihrem Repräsentanten vor allem publizistisch und intellektuell Rückhalt bot. Diese Aspekte sind in den einzelnen Aufsätzen des Bandes freilich nur angerissen worden, besonders sind die Beiträge von Oppermann, von Ulrich Schlie zum „20. Juli“ und von Gangolf Hübinger zum Protestantismus hervorzuheben.   Eine große Gesamtdarstellung ist an der Zeit.

 

Michael S. Bienert, Matthias Oppermann, Kathrin Zehender: „Die Freiheit geschieht nicht an uns, sie geschieht durch uns.“ Richard von Weizsäcker und die deutsche Politik. BeBra Wissenschaft Verlag, Berlin 2023. ISBN: 978-3-95410-106-1, 213 Seiten, EUR 19,95

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