Man kennt ihn als Papst und Poeten, als Verfasser solider lehramtlicher Schreiben und als Charismatiker, der Stadien zum Leuchten bringen konnte, doch ein wesentliches Tätigkeits- und Interessenfeld von Johannes Paul II., die Philosophie, fristet in der öffentlichen Wahrnehmung eher ein Schattendasein.
Umso besser, dass sich in diesem Jahr, in dem sich der Geburtstag des Papstes, der aus Polen kam, zum hundertsten Mal jährt, eine „Einführung in seine Philosophie“ erschienen ist. Verfasst von dem Spanier Juan Manuel Burgos, unter dem ebenso schlichten wie anspruchsvollen Titel „Karol Wojtyla verstehen“. Ein gutes Motto in jedem Fall, denn der Papst der vielen Auftritte und Reisen legte stets Wert darauf, dass derjenige, der ihn wirklich verstehen wolle, dies von „innen“ her tun müsse. Und was könnte sich besser für eine solche Annäherung eignen als Wojtylas Philosophie, die auf das Erfassen der Person, jeder Person ausgerichtet ist? Objektiv wie subjektiv, mit Gefühl und Verstand. Strebte der intellektuelle Überflieger aus Wadowice in reifen Jahren doch nichts Geringeres an, als die im Studium erworbenen Erkenntnisse des Thomismus und der Phänomenologie, Tradition und Moderne kreativ zu verbinden, denn mit einer Denkrichtung allein war er nicht zufrieden.
Eine ganz eigene Strömung des Personalismus
Anhand der wichtigsten Texte und Werke, besonders natürlich „Liebe und Verantwortung“ sowie „Person und Tat“ zeigt Burgos, dass Wojtyla eine ganz eigene Strömung des Personalismus entwickelte, die sich zwar auf den Thomismus und die Phänomenologie stützt, ohne Wojtyla zu einem Vertreter diese Schulen zu machen. „Wojtyla ging von einer aristotelisch-thomistischen Bildung aus, in die er die phänomenologische Methode zusammen mit anderen Elementen der modernen Philosophie, vor allem von kantischem Zuschnitt, einsetzte, und die Gesamtheit beider Elemente, am meisten der Einfluss der von ihm sowohl gelesenen wie auch verfassten personalistischen Philosophie, führte zu seinem originellen und eigenen Denken.“
Das Originelle daran war vor allem, wie Burgos gründlich belegt, die Rolle der menschlichen Erfahrung, des Erlebnisses, die Wojtyla in der klassischen Metaphysik nicht genug gewürdigt sah. „Die Erfahrung, die, so wie sie von Wojtyla verstanden ist, vom ersten Moment an die objektive und subjektive Dimension einschließt und vereinigt, weil sie ein lebendiges Wissen der Wirklichkeit ist, das von Anfang an diese grundlegende Tatsache in Rechnung stellt, dass der Mensch „niemals etwas außerhalb seiner erfährt, ohne in irgendeiner Weise in dieser Erfahrung sich selbst zu erfahren“. Dies ist für Burgos der „entscheidende Punkt“ in Wojtylas Bestreben: „Wenn wir die Objektivität zurückweisen, treiben wir zum subjektivistischen Ich; wenn wir die Subjektivität zurückweisen, finden wir uns bei einem gattungshaften und ontologischen, aber nicht personalen Menschen. Beide sind so notwendig wie unzureichend und Wojtyla ist der Ansicht, dass er durch sein Konzept der Erfahrung beide integrieren kann.“ In aller Demut natürlich, denn Wojtyla hielt sich zeit seines Lebens für einen Mann, der lediglich zu denken versuchte, ohne über eine besondere Gelehrsamkeit zu verfügen. „Die Bücher, das Studium, die Überlegung […] helfen mir, das zu formulieren, was die Erfahrung mich lehrt.“ War es Wojtylas künstlerische Ader, wie Burgos vermutet, die ihn in dieser Weise zu einem „in die Innerlichkeit Verliebten“ machten? „Das hauptsächliche Motiv, aufgrund welchem Wojtyla auf der Wichtigkeit der subjektiven Dimension besteht, beruht nicht nur auf der Feststellung der Tatsache der Subjektivität, sondern ihrer auch objektiven Priorität in der Konstitution der Person als jemand Unreduzierbarem und Einmaligem.“
Progressiver Denker: Wieviel Wojtyla steckt in Johannes Paul II.?
So weit ging der geniale Pole, folgt man Burgos, dass jede Person wisse, „dass sie das sein kann, was sie wünscht, weil sie beim Ausführen der Taten, die sie frei wählt, sich selbst verändert und auf der Grundlage dessen, was sie ist, kommt sie nicht nur an den Zipfel einer äußeren Aufgabe oder Mission heran, sondern konstruiert sie ihr eigenes Projekt als Person“. Deshalb sei die Selbstbestimmung tatsächlich das, was dem Menschen erlaube, sich zu verstehen und als Subjekt und noch mehr als Person zu leben. Dass das Fehlen dieser Dimension in der klassischen Metaphysik ein Defizit ausmacht, war Wojtyla offenbar voll bewusst. Der Mensch wird dort zum Objekt degradiert, während das Personsein doch erst das Wesen des Menschlichen ausmacht.
Auch auf dem Gebiet der Ethik entpuppt sich der fälschlicherweise in Deutschland lange Zeit als konservativer Hardliner wahrgenommene polnische Denker als frei-geistiger Innovator. „Das thomistische Verständnis des Realen tendiert dazu, ein Denkschema des Wasserfalls zu präsentieren, das mit der Metaphysik beginnt. Die Wissenschaft des Seins als solches erschafft die Strukturen, die allen Seienden gemeinsam sind und die sich dann analog entfalten, wobei sie sich an die Vielseitigkeit jeder einzelnen Ordnung anpassen. Das heißt, dass die Ethik von der Metaphysik abhängt. Diese zeigt die allgemeinen Strukturen des Seins und die Ethik konkretisiert sie. Ohne Zweifel akzeptiert Wojtyla dieses Verständnis nicht und begründet dieses genau durch den Rückgriff auf die moralische Erfahrung.“ Weder, das betont Burgos, benötige die Ethik nach Wojtyla eine andere Wissenschaft „um zu ihrem Ausgangspunkt zu gelangen“, noch dürfe sie sich darauf reduzieren, „eine Zusammenstellung von Normen zu sein“. Bedeutung und Motivationsfähigkeit, darum geht es Wojtyla bei der Ethik. Ein Ansatz, so modern, dass viele, die Johannes Paul II. einst zugejubelt haben, vermutlich gar nicht wussten, wie progressiv er war. Oder wussten sie es doch? Zwischen den persönlichen Texten des Philosophen und den lehramtlichen Texten des Papstes scheint es, das gibt Burgos zu, etwa wenn man auf die Enzyklika „Veritatis splendor“ schaut, große „Übereinstimmungen“ zu geben, aber auch „bemerkenswerte Unterschiede“ bei den ethischen Voraussetzungen. Hier wäre eine ausführliche Untersuchung sicherlich interessant. Wieviel Wojtyla steckt in Johannes Paul II.? Auch der Einfluss Kants auf das Denken Wojtylas sollte irgendwann noch eine gründliche Analyse wert sein.
Zum Einstieg jedoch kann man das von Stefan Endriß übersetzte Buch, das in den von Christoph Böhr herausgegebenen Wojtyla-Studien im Berliner Wissenschafts-Verlag erschienen ist, bedenkenlos empfehlen. Es regt auf klar strukturierte und kohärente Weise an, sich noch tiefer mit dem Denken des Jahrtausend-Papstes zu beschäftigen, der wohl gerade als Philosoph einen exzellenten neuen Kirchenlehrer abgeben würde, einen Lehrer des unreduzierbaren Menschseins.
Juan Manuel Burgos: Karol Wojtyla verstehen. Eine Einführung in seine Philosophie. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2020, 125 Seiten, ISBN 978-3-8305-5033-4, EUR 34,–
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