Apologetik

Poesie ist die Muttersprache des Menschengeschlechts

Ein neuer Kommentar erschließt den theologischen Ansatz in Johann Georg Hamanns „Ästhetik in einer Nussschale“.
St. Hieronymus
Foto: IMAGO / Artokoloro | „Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache“, sagt der Philologe Hamann.

Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder“ – so schreibt der Königsberger Schriftsteller Johann Georg Hamann (1730–1788) in einer seiner berühmtesten Schriften, der Aesthetica in nuce. Diese „Ästhetik in der Nußschale“, die 1762 in einer Textsammlung mit dem bezeichnenden Titel „Kreuzzüge eines Philologen“ erschien, hat es in sich. Denn es handelt sich keineswegs, wie man denken könnte, nur um einen Text über Dichtung, sondern um eine theologische Meditation. Die „Kreuzzüge“ Hamanns stehen wohl für seine offensive Verteidigung des christlichen Glaubens, so wie der Philologe hier nicht einfach ein Liebhaber der Sprache, sondern des Logos selbst, des Wortes Gottes, ist.

Gott redet mit Engelszungen

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Es geht in der Aesthetica in nuce also um einen Versuch zu ergründen, wie Gott spricht und wie sich dessen Sprache übersetzen lasse, so dass die Menschen sie lesen und verstehen können. „Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache“, sagt Hamann. Und diese Menschensprache ist ohne Bilder nicht zu denken. Denn in diesen Bildern, so Hamann, bestehe der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit.

Die Schöpfung selbst wird den Menschen dadurch sichtbar, dass das Wort „Es werde Licht!“ ertönt und die Geschöpfe so eine „Empfindung von der Gegenwart der Dinge“ haben. Krönung der sinnlichen Offenbarung aber ist der Mensch, den Gott in göttlicher Gestalt erschuf. Die Poesie ist für Hamann immer mehr als „bloß“ Dichtung. Sie ist vielmehr „Muttersprache“ und steht als solche für die ganze Fülle dessen, was Sprache vermag und ist. Aber Sprache ist wiederum mehr als menschliches Sprechen, wie Hamann deutlich macht, wenn er ausruft: „Rede, dass ich Dich sehe!“

Durch Reden wird der Mensch sichtbar

Denn dieser Wunsch, jemand solle sich durch das Reden sichtbar machen, zielt auf die Schöpfung selbst, „die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist“. Die Schöpfung „spricht“ also durch Geschöpfe gleichsam mit sich selbst. Sie spricht in vielfältiger Weise auch durch die Struktur der Welt selbst, so dass sie nicht überhört werden könne: „Denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der anderen“; das Wort der Schöpfung laufe „über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme“!

So wie Hamann hier die Psalmen für sich sprechen lässt, verbirgt er und enthüllt er sich selbst durch seinen Flickenteppich aus Anspielungen und Zitaten. Die ungarische Philologin Eva Kocziszky, Autorin eines tiefgründigen Buches über „Hamanns Kritik der Moderne“ (2003), hat in jahrelanger Arbeit einen neuen Kommentar zu Hamanns rätselhafter Schrift erstellt. Dieser Kommentar erlaubt es – auch wenn ihn leider der Fehlerteufel nicht verschont hat – die vielen Bezüge und Querverweise Hamanns zu entschlüsseln und in die Tiefendimension des Textes einzutauchen. Das ist auch höchst nötig, denn mit einer naiven Lektüre Hamanns kommt man leider nicht weit, wie schon Hamanns Zeitgenossen von Claudius bis Goethe erfahren mussten.

Es geht in der Aesthetica in nuce also um einen Versuch zu ergründen,
wie Gott spricht und wie sich dessen Sprache übersetzen lasse,
so dass die Menschen sie lesen und verstehen können

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Bis heute gibt es nur die in manchem philologisch nicht mehr befriedigende Ausgabe Josef Nadlers, der das Gesamtwerk Hamanns erschlossen hatte und auch für Kocziszky maßgeblich bleibt. Weitere Projekte aus früheren Jahrzehnten, vor allem die Gütersloher Serie Hamanns Hauptschriften erklärt, wurden nie abgeschlossen – auch wenn immer wieder Einzelkommentare von teils bemerkenswerter Gelehrsamkeit folgten. Erst vor kurzem wurde mit einer aufwendig kommentierten Edition des sogenannten „Fliegenden Briefes“ (hg. von Janina Reibold, Meiner 2018) der Auftakt zu neuen wirklich kritischen Ausgaben gemacht, auf die eben erst auch die „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ sowie die „Wolken“ (hg. von Leonard Keidel und Janina Reibold, Meiner, 2021) gefolgt sind. All das spricht für ein neues Interesse an Hamann.

Wie alle Texte Hamanns ist auch seine „Ästhetik in einer Nussschale“, so kurz sie mit ihren knapp 30 Seiten ist, ein äußerst dichtes Gewebe aus unterschiedlichen geistigen Stoffen, das nicht leicht zu durchdringen ist. Zwar dominieren die direkten und indirekten Zitate aus der Bibel, aber auch die antike Philosophie von Platon und Philon von Alexandrien ist ihm wichtig, wie die späteren handschriftlichen Eintragungen von Hamann in sein Arbeitsexemplar zeigen, die in die neue Studienausgabe Kocziszkys aufgenommen wurden.

Alte Weisheit und Offenbarung

Die vielen Bilder, die der Text im Geiste des Lesers hervorruft, drehen sich um Poetisches ebenso wie um Theologisches. Alles erhellt sich gegenseitig, Analogien ziehen sich durch das Sein – denn nachgerade alles ist bei Hamann auf Gott und seine Herunterlassung zu den Menschen bezogen. Hamann plädiert für einen ernsten Humor, dienen doch seine virtuosen Sprachbilder bei allem Jonglieren mit Begriffen im Letzten nichts anderem als der Furcht des Herrn, die das Hauptstück der Erkenntnis ist.

Die Germanisten werden ihn als sprachmächtigen Autor schätzen, während er für andere der vielleicht entschiedenste Verteidiger des Christentums gegen die Theologen der Aufklärung bleibt. So oder so hat sein Name nichts an Faszination verloren, denn er verbindet älteste Weisheit und Offenbarungsrede in einer christlich orientierten Ästhetik, die ihresgleichen sucht.


Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prosa.
Herausgegeben und kommentiert von Eva Kocziszky.
Karolinger Verlag, Wien/Leipzig 2021, 139 Seiten, EUR 22.–

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