Rezension

„Liber pontificalis“: Papstgeschichte pur

Die Chronik „Liber pontificalis“ verzichtet auf historische Blickwinkel und referiert objektiv die Fakten.
Papstgrabmal für Pius VII.
Foto: IMAGO/imageBROKER/Karl-Heinz Schein (www.imago-images.de)

 Papst Franziskus ist der 266. Bischof von Rom. Wie viele von seinen 265 Vorgängern kennt man wirklich genauer? Von wie vielen kennt man überhaupt die Namen? Solche Wissenslücken lassen sich stopfen: Ein gutes Mittel dafür ist der Liber pontificalis, eine noch in der Spätantike begonnene Sammlung von Papstviten. Der Trierer Historiker Ingemar König legt nun in der Reihe „Fontes Christiani“ eine Ausgabe der ersten 90 Papstviten bis Papst Constantinus (708–715) mit einer kommentierten deutschen Erstübersetzung vor. 

Mit seinem nüchternen Chronikstil und seinen feststehenden und immer wieder repetierten Formeln gehört der Liber pontificalis sicher nicht zu den großen Meisterwerken der lateinischen Literatur. Doch gerade der stereotype Aufbau dieser Viten hat etwas Beruhigendes an sich. Jede beginnt mit der geographischen und familiären Herkunft des betreffenden Papstes und endet nach seinem Tod mit der Formel „Und das Bischofsamt ruhte für … Tage“. Und auch in der Gesamtschau lädt dieses Buch dazu ein, gelegentliche Turbulenzen der Kirchengeschichte nicht verzweifelt ernst zu nehmen; schließlich fanden auch die Krisenzeiten, von denen diese Sammlung mitunter berichten muss, alle ihr natürliches Ende.    

Die Kirche nimmt vor dem Auge des Lesers Gestalt an

Liest man das Buch chronologisch von Papst zu Papst, so kann man der Kirche und ihren Institutionen und Riten gleichsam dabei zusehen, wie sie Gestalt annehmen. So verfügte Papst Victor I. (189–199), „dass das heilige Osterfest an einem Sonntag gefeiert werde“. Papst Stephanus I. (254–257) „ordnete an, dass Priester und Leviten die Messgewänder nicht im alltäglichen Gebrauch, sondern nur in der Kirche verwenden sollten“ (während heidnische Priester ihre liturgischen Gewänder nicht selten auch im Alltag trugen). Papst Zosimus (417–418) machte sich offensichtlich Gedanken darüber, ob Kleriker in öffentlichen Tavernen einkehren dürfen sollten (er war dagegen), während Anicetus (155–165) ihnen die Haarpflege untersagte – was damit genau gemeint war, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Ein deutlich erkennbares Hauptinteresse des Liber pontificalis liegt auf liturgischen Entwicklungen wie der Einführung des Weihwassers durch Papst Alexander I. zu Beginn des zweiten Jahrhunderts. Den politischen Bereich vernachlässigte dieser Papst allerdings generell eher. Das gilt natürlich nicht für die Religionspolitik der römischen Kaiser, die vor der konstantinischen Wende viele Päpste – beginnend mit Petrus – dazu zwang, das Martyrium auf sich zu nehmen. So etwa auch Papst Sixtus I. (257–258); er „verachtete die Anordnungen Valerians“, der ihn zum Götzenopfer zwingen wollte, und wurde dafür enthauptet.

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Auf die heroische Frühzeit mit ihren Märtyrerpäpsten folgte ab der konstantinischen Wende die Phase der Konsolidierung und des Machtgewinns. Ausführlich listet der Liber pontificalis auf, welche Sakralkunstwerke Kaiser Konstantin unter Papst Silvester I. den von ihm erbauten römischen Basiliken stiftete. Die Silvester-Vita ist freilich auch ein gutes Beispiel dafür, dass man dem Liber nicht alles glauben sollte: der Verfasser greift hier auch auf völlig unhistorische Legenden zurück, nach denen Konstantin erst ein Christenverfolger gewesen und durch die Taufe von der Lepra geheilt worden sei. 

Es geht nicht um die Päpste als Privatpersonen

Historische Kritik ist nicht unbedingt die Sache dieser Sammlung (aber es wäre anachronistisch, solches von ihr zu verlangen). Den Zeitabschnitt ab Johannes III. (561–574) stellt König unter die Überschrift „Das Papsttum unter byzantinischer Verwaltung“ und signalisiert schon dadurch, welche Schwierigkeiten die Nachfolger Petri auch in christlichen Zeiten mitunter hatten, ihre Autonomie zu bewahren. Über manche Päpste weiß der Liber pontificalis nur wenig zu berichten, was natürlich auch an den mitunter äußerst kurzen Pontifikatszeiten liegt. Bei anderen versteht man es weniger gut; besonders auffällig ist, wie kurz er Gregor den Großen abhandelt. Aber auch in den längeren Viten fällt auf, dass diese Chronik über die jeweiligen Päpste als Privatpersonen nichts zu sagen hat, obwohl die antike Biographik auch für ausführliche „human-interest stories“ Vorbilder bereitgehalten hätte – man denke an die Kaiserviten Suetons. Der Liber pontificalis verrät uns weder, was das Lieblingsgericht eines Papstes war, noch was für Scherze er zu machen pflegte oder welche Sorte von Haustier er bevorzugte.

Profane Anekdoten sind dieser Sammlung gänzlich fremd. Das unterscheidet sie merklich von der Art, wie heute oft auf Päpste geblickt wird, und es regt zum Nachdenken an. Der Lichtkegel permanenter medialer Aufmerksamkeit, der auf den Päpsten der Moderne ruht, hatte segensreiche Wirkungen, er hat aber mitunter dazu beigetragen, dass das Interesse für die einzelnen Päpste als Menschen mit ihren Stärken und Schwächen das Verständnis für die von ihnen verkörperte Institution verdunkelte. Die Logik des Liber pontificalis ist eine andere: für die einzelnen Menschen und ihre Psychologie interessiert er sich überhaupt nicht, sondern referiert in kühler Objektivität ihre Taten, Leistungen und Entscheidungen als Kirchenoberhaupt. Von dieser Haltung kann man lernen.    


Liber pontificalis – Das Buch der Päpste. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Ingemar König. Freiburg i. Br., Herder, 2022, 2 Bände, Hardcover, zusammen 841 Seiten, Band 1 ISBN 978-3-451-32934-0, EUR 59,-; Band 2 ISBN 978-3-451-32935-7, EUR 48,-

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Clemens Schlip Johannes III. Kirchengeschichte Papst Franziskus Päpste

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