Der Sprachkünstler und Sprachschöpfer William Shakespeare, dessen wortmächtige Visionen facettenreich sein eigenes Wesen enthüllen, bedient sich oft in doppelsinniger Weise der Figur des Narren. Er ist ihm Vorbild, aber auch Warnung. Der mittelalterliche Narr oder Tor (althochdeutsch Narro) galt als soziale Institution, deren gesonderte Stellung einen unerhörten Handlungsspielraum umfasste. Vielfältig wie die Erscheinungsbilder waren die Namen: Man sprach vom Clown, Hofnarren oder dummen August ebenso, wie vom Joker, Harlekin, Hanswurst, Jeck, Kasper, Pierrot, Scharlatan oder Schlemihl.
Die berühmten Tore der Weltgeschichte
Die „künstlichen Narren“, also jene, die durch Witz und Schalk, oft auch durch hintersinnige Intelligenz in ihre Rolle schlüpften, erfreuten sich eines gerüttelten Maßes an Freiheit. Sie durften als fester Bestandteil des Hofstaates auch Höher- und Höchstgestellten einen geistigen Spiegel vor Augen halten. Sie hatten eben Narrenfreiheit auch bezüglich der Wahrheit und konnten ungestraft die Dinge dieser Welt beim richtigen Namen nennen.
Als sogenannte „natürliche Narren“ oft durch Missbildung, Behinderung oder Geisteskrankheit gezeichnet, galten Personen, deren Gebrechen ihnen die Rolle des Tölpels zuwies. Diese bedauernswerten Geschöpfe dienten nicht nur anatomischen Studien, sondern wurden auch von Künstlern minutiös dargestellt. Der geniale Leonardo da Vinci (1452-1519) hat uns eine Reihe solcher Zeichnungen hinterlassen.
Wenn Shakespeare die Sehnsucht nach der „bunten Jacke“ beschwört, so ist damit nicht nur die Beschreibung der üblichen Narrenkleidung, der farbigen, mit Schellen behängten Jacke und der zweifarbigen Hose, sowie der zipfeligen Kappe, samt Spiegel in den Händen, angesprochen, sondern – wie wir noch sehen werden – weit mehr die Verfasstheit des Narrentums. Als berühmte Toren der Weltgeschichte gelten Don Quichotte de la Mancha, der fahrende Ritter und Narr des Guten, Till Eulenspiegel, der flämische Habenichts aus Dammne, der Spötter und revolutionäre Anarchist, ferner die Schildbürger und ihre skurrilen Streiche. Besonders trinkfest erwies sich der kleinwüchsige Hofnarr Perkeo (eigentlich Clemens Pankert 1702-1735), der Hofzwerg des Kurfürsten Karl III., Kurfürst von der Pfalz. Er wurde zum Hüter des Weinfasses im Heidelberger Schloss bestellt. Hamlet sei erwähnt, dessen gespielter Wahnsinn ein subtiles Versteckspiel ist, mit dem Ziel, die Wahrheit zu sagen, aber darauf nicht festgelegt zu werden, ganz in dem Sinne wie Plato davon spricht, dass die Torheit eine Disposition sei, die verhindere, die Wahrheit zu erfassen.
Der dänische Prinz hält in der Totengräberszene (Akt V, Szene 1) des vielgeliebten Hofnarren Yoricks Schädel in der Hand und philosophiert über das Relative und Vergängliche, ja letztlich über die Narrheit des Todes, wie des Lebens. Man fühlt sich an den Holzschnitt „Leben und Tod“ (um 1530) von Hans Holbein erinnert, in welchem der Sensenmann im Narrengewand den lebenden Gaukler umtanzt, wohl auch an das Narrenschiff von Sebastian Brant oder das lehrhaft drastische des Hieronymus Bosch van Aken. Riesenhaft neigt sich die Figur der Torheit auch über das Zeitalter der Renaissance. Erasmus von Rotterdam wäre hier zu nennen und sein „Lob der Narrheit“, eine satirische Schrift, die letztlich die Torheit als Lebensweisheit, Resignation und schonendes Urteil erweist, als Heiterkeit und Triebkraft des Lebenstheaters.
Züge des Toren auch beim Heiligen Franziskus
Eine der tiefsten Stellen bezüglich der Beziehung zwischen sapientia und stultitia finden wir beim Heiligen Paulus (1 Korinther, 3, 18f). Er schreibt: „Niemand täusche sich selbst. Wenn einer unter euch glaubt weise zu sein in dieser Welt, so werde er ein Tor, um ein Weiser zu werden. Ist doch die Weisheit dieser Welt, Torheit bei Gott.“ Die sogenannten „Gottesnarren“, jene, die aus verzückter Gottesliebe im Sinne der Welt „närrisch“ wurden, kennt man vor allem – aber nicht ausschließlich – in Russland. Der Begriff des „jurodiwy“ bezeichnet eine exzentrische, auch äußerlich auffällige Person. Puschkins Narr in „Boris Godunow“, Fürst Myschkin in Dostojewkis „Idiot“ oder Tarkowskis „Stalker“, sind Vertreter dieser „mehrdimensionalen“ Verrücktheit, welche echt oder vorgetäuscht sein kann, auf jeden Fall ist sie provokativ. Im 20. Jahrhundert galt der Komponist Schostakowitsch als Gottesnarr, ebenso Boris Pasternak, der begnadete Schriftsteller. Von Beiden hieß es, dass Stalin sie wegen ihrer Skurrilitäten schließlich nicht mehr ernst genommen habe, was ihnen vermutlich das Leben rettete.
„Gottes Wort wirkt auf den Narren wie auf den Weisen, auf den Niederen wie auf den Hohen, auf den Armen wie auf den Reichen, unwiderstehlich und überall“, so schreibt Hugo Ball in seinem Byzantinischen Christentum, bevor er das Leben jenes Narren in Christo schildert, der als Säulenheiliger, als Symeon der Stylit, in die Geschichte eingegangen ist. Dieses extreme Beispiel der Mönchsaszese mag uns heute als raffinierte Selbstquälerei erscheinen, als bizarrer Weg der Kasteiung, der für uns letztlich unfassbar ist.
Züge des Toren finden wir auch beim Heiligen Franziskus. Man denke an sein Verhalten, als er im Beisein des Bischofs seinem Vater Pietro Bernardone sein Kleiderbündel zu Füßen legt. Mit dem Strick um den Hals bekennt er den Leuten seine vermeintlichen Sünden. Speisen würzt er mit Asche und Essig. Erwähnt sei auch Creszentia von Kaufbeuren, die den närrischen Befehl der Oberin, Wasser in einem Sieb zu tragen, unverzüglich gehorsam ausführt. Kein Tröpflein, so wird berichtet, sei aus dem Sieb gelaufen.
Auch andere Kulturkreise kennen die Gestalt der weisen Narren. Der Nasredin oder Dschuha gehört in den islamischen Raum, Abu Nuwas nach Ostafrika. Hershele Ostropolier ist eine jiddische Figur, Sri Thanonchai eine südostasiatische. Andare stellt in Sri Lanka die Welt auf den Kopf, in der Mongolei erzählt man die Geschichte des Wandermönches Badartschin.
Sorglosigkeit und Lächerlichkeit sind eine Warnung
Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. „Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke“, schreibt Shakespeare. Der Narr oder Tor ist also einerseits Vorbild, denn er achtet die Dinge dieser Welt gering und verfügt damit über ungeahnte Freiheit. Andererseits jedoch stellt seine Unverantwortlichkeit, Sorglosigkeit, ja Lächerlichkeit eine Warnung dar: es besteht die Gefahr der Aufgabe des Intellekts. Diesen Zwiespalt mag auch Shakespeare empfunden haben. O wär ich doch ein Narr, schreibt er und hat dabei die coniunctio oppositorum, die Vermählung der Gegensätze im Visier.
Er denkt an die Vereinigung der menschlichen Weisheit, die in den Augen Gottes Torheit ist, mit der göttlichen Weisheit, die in den Augen der Menschen Torheit ist. Das Problem der Vereinigung von Spiritualität und Intellektualität löst möglicherweise nur der Narr, indem er das Bewusstsein qualitativ umwandelt. Der Narr ist befreit von aller Begrenzung und besitzt in seiner „Tollheit“ eine Fülle von Möglichkeiten, die dem Normalen verschlossen sind. Er hypertrophiert in seinen abgründigen Betrachtungen das Beziehungsgeflecht der Wirklichkeit und vereinigt gewissermaßen die Offenbarung mit der menschlichen Weisheit.
So sei denn schlussendlich noch auf den reinen Toren verwiesen, die sagenhafte Rittergestalt des Parzival. Dieser, ein Außenseiter, ein vorgeblich Verrückter, heilt durch seine unbefangene Frage nach dem heiligen Gral den siechen König Anfortas. Diese Frage zielt in die Herzmitte der Welt, die nun neu ergrünt. Es ist die goldene Spur der Kindlichkeit, der totalen Arglosigkeit und Unschuld, die dem Toren magische Kräfte verleiht.
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga drückt es so aus: „An den Einfältigen und Unwissenden hat Christus Wohlgefallen gehabt. An Kindern, Frauen, armen Fischern, ja auch an denjenigen Tieren, die am weitesten von der Verständigkeit der Füchse entfernt sind: am Esel, auf dem er reiten wollte, an der Taube, am Lamm, an den Schafen.“
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