Mündige Bürger

Figur des Untertan in der deutschen Geschichte

Der Pädagoge Josef Kraus hat die Figur des Untertans in der deutschen Geschichte untersucht. Gefährdet ein Mangel an Bildung die Demokratie?
"Der Untertan", DDR 1951, Regie Wolfgang Staudte,  Darsteller Werner Peters
Foto: imago stock&people | In der Schlussszene des Films „Der Untertan“ (1951) von Wolfgang Staudte steht Diederich Heßling vor seinem Kaiser allein im Regen.

Als im Jahr 1894 in Frankreich der Generalstabsoffizier Alfred Dreyfuss wegen Geheimnisverrats zur Höchststrafe, zu Degradierung, lebenslanger Haft und Verbannung in einer überseeischen Strafkolonie verurteilt worden war, stieß die auffällige Rechtsbeugung, die zu diesem Urteil geführt hatte, in Deutschlands wilhelminischer Öffentlichkeit auf Ablehnung. Gerade das deutsche Kaiserreich von 1871 brachte es zu einer stupenden Liberalität des öffentlichen Diskurses.

„Dass überhaupt eine Figur wie der Untertan thematisiert wurde,
belegt eine Freiheit, von der man heute nur träumen kann“

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Für die Liberalität und die Pluralität der öffentlichen Debatte sprach auch das – im krassen Gegensatz zu heute – hohe Niveau der Satire-Attacken auf die Regierenden, wie sie Kabaretts wie das „Überbrettl“ oder Zeitschriften wie der „Simplicissimus“ wagten. „Überbrettl“ und „Simplicissimus“ würden heute als „rechts“ verschrien und gecancelt. Auch sucht man in der deutschen Literaturlandschaft vergebens nach einem so durch und durch satirischen Roman wie Heinrich Manns „Der Untertan“.

Gerade dieser Roman zeigt im Gegensatz zum Klischee, welch hohes Niveau der Diskurs im Kaiserreich erreichte. Dass überhaupt eine Figur wie der Untertan thematisiert wurde, belegt eine Freiheit, von der man heute nur träumen kann, zumal Heinrich Manns „Untertan“ kein Solitär war, denkt man nur an den „Hauptmann von Köpenick“. Über die Tat des „Hauptmanns von Köpenick“ soll selbst Kaiser Wilhelm II. unter Lachen gesagt haben: Da kann man sehen, was Disziplin heißt. Kein Volk der Erde macht uns das nach! Heinrich Manns Roman belegt zudem die hohe Fähigkeit zur Selbstironie. Es ist nicht auszuschließen, dass es auch in anderen Ländern, in anderen Völkern und auch zu anderen Zeiten, so etwas wie Untertanengeist gab und gibt, doch zumindest den deutschen hat Mann glänzend in seiner Satire karikiert.

Kam der Untertanengeist mit der Reformation?

Josef Kraus ist in seinem jüngsten Buch angeregt von Heinrich Mann der Figur des Untertans in Deutschland nachgegangen, hat Belege gesammelt und nach der Kontinuität seiner Haltung gefragt. Nicht umsonst wird wieder gefordert, Haltung zu zeigen. Diese Forderung erinnert an die ironische Bemerkung eines alten Schauspielers, der den Begriff der Haltung mit dem Diktum kommentierte: Nur Gartenzwerge haben Haltungen.

Die Geschichte des deutschen Untertanengeists lässt Josef Kraus in der frühen Neuzeit mit der Reformation beginnen, die er ein wenig zu marxistisch liest. Luthers Agieren im Bauernkrieg ist komplexer, als seine zweite Bauernkriegsschrift es ahnen lässt und der Vorwurf des Antisemitismus geht aus mehreren Gründen am Denken und Schreiben des Reformators vorbei. Luthers Zwei-Regimente-Lehre stellt auch nach 500 Jahren noch die härteste Kritik an der Politisierung der evangelischen Kirche dar. Seine Warnung an die Regierenden hat kein Körnchen Staub angesetzt: „Das wollen wir so klar machen, dass man?s mit Händen greifen solle, auf dass unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben.“

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Ein erzwungener Mainstream führt nur zur Lüge

Und mit Blick auf ihre Untertanen schreibt Luther bereits 1523: „Denn wie streng sie gebieten und wie sehr sie loben, so können sie die Leute nicht weiter nötigen, als dass sie ihnen mit dem Mund und mit der Hand folgen; das Herz können sie ja nicht zwingen, und wenn sie sich zerreißen sollten.“ Er geht sogar so weit, dass die von ihm zutiefst verabscheuten Ketzer nicht mit Feuer und Schwert zu bekämpfen seien, sondern dass man sich mit ihnen rein argumentativ auseinanderzusetzen hat. Andere Meinungen zu kriminalisieren und mit staatlichen Repressionen zu begegnen, hält Martin Luther nicht nur für Gotteslästerung, sondern er zeigt sich felsenfest davon überzeugt, dass diese Repressalien auf ihre Hervorbringer, die für ihn Gotteslästerer sind, zurückfallen werden, denn „sie treiben damit die schwachen Gewissen mit Gewalt dazu, zu lügen, zu verleugnen und anders zu reden, als sie es im Herzen meinen, und beladen sich selbst so mit gräulichen fremden Sünden. Denn alle die Lügen und falschen Bekenntnisse, die solch schwache Gewissen tun, fallen zurück auf den, der sie erzwinget.“

Und der Reformator folgert daraus: „Es wäre jedenfalls viel leichter, wenn ihre Untertanen schon irreten, dass sie sie schlechthin irren ließen, als dass sie sie zur Lüge und anders zu sagen nötigen, als sie es im Herzen haben. Es ist auch nicht recht, dass man Bösem mit Ärgerem wehren will.“ Luther verteidigt die Freiheit der Sprache, wie auch Josef Kraus in seinem lesenswerten Buch, eine Freiheit, die heute durch den Genderismus zerstört werden soll. Im Sendbrief vom Dolmetschen schrieb Luther: „Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man deutsch reden soll, wie diese Esel tun; sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den Mann auf dem Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach übersetzen, so verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“ Man muss auch nicht die Politiker und Ideologen fragen, denn die Sprache gehört allen, die sie sprechen. Zu Recht und mit guten Argumenten prangert Josef Kraus den Versuch an, aus der deutschen Sprache durch Sprachzensur eine Untertanensprache zu machen.

Selbst in Medien wird gegen mündige Bürger gewettert

 

Profund und gründlich zeigt Kraus in vier Kapiteln, wie ein neuer Zeitgeist nicht mehr den kritischen Bürger, sondern den unreflektiert Folgsamen zum Leitbild erhebt, der willig den „Interpretationseliten“ und „unseren Wahrheitssystemen“ folgt. Wenn selbst in der F.A.Z. ein Steinmeier-Biograf die Figur des mündigen Bürgers als „AFD-Sprache“ denunziert, dann belegt das die Notwendigkeit, Kants mündigen Bürger als Leitbild einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft zu verteidigen. Denn das Gegenteil vom Untertan ist der aufgeklärte Bürger, der den Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen.

Im fünften Kapitel empfiehlt Josef Kraus zur Überwindung des deutschen Untertans einen neuen Mut, selbstständig und kritisch zu denken, wozu es einer umfassenden Bildung bedarf. Kritikfähigkeit setzt Bildung voraus. So ist es kein Zufall, wenn seit Jahren, wie Kraus aus eigener Erfahrung und eigener Anschauung beschreibt, Bildungsverlust staatlich betrieben wird.

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Das derzeitige Bildungssystem gebiert vermehrt Untertanen

Wie sehr man sich im heutigen staatlichen Bildungssystem den Untertanen wünscht, verdeutlicht das Deutschlehrbuch des Cornelsen Verlages für die Oberstufe „Texte, Themen und Strukturen“, in der Heinrich Manns „Untertan“ behandelt werden soll, allerdings unter der bewusst irreführenden Überschrift „Demokratie ohne Demokraten – Eine Satire auf die wilhelminische Gesellschaft“, obwohl das fragwürdige Wort von der „Demokratie ohne Demokraten“ eben nicht auf das Kaiserreich, sondern auf die Weimarer Republik gemünzt war. Im gleichen Schulbuch übrigens wird Franz Kafkas Erzählung „Ein Brudermord“ als Höhepunkt expressionistischer Prosa verkauft, obwohl doch jeder auch nur halbwegs germanistisch Gebildete weiß, dass Kafka mit dem Expressionismus so viel zu tun hat wie der Kaffeesatz mit dem Satz des Pythagoras. Muss man sich den Didaktiker des Deutschunterrichts als neudeutschen Untertan vorstellen?

Das neue Buch von Josef Kraus ist nicht nur eine Pathologie des deutschen Untertans bis in die Gegenwart hinein, sondern zugleich und überhaupt eine kenntnisreiche Streitschrift für Immanuel Kants mündigen Bürger, der seine Wurzel in der Freiheit eines Christenmenschen hat. Denn in der Freiheit des zur Freiheit fähigen, eben mündigen und kritischen Bürgers findet sich der Lebensnerv unserer Demokratie und der Quell unserer wirtschaftlichen Erfolge.


Josef Kraus: Der deutsche Untertan. Vom Denken entwöhnt. Langen Müller Verlag 2021, 351 Seiten, Euro 24,–

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