Wohl niemand beherrscht die Kunst des Aphorismus, das knappe Ins-Wort-Bringen einer schlussfolgernden Kombination von Gedanken besser als die Franzosen. Ihnen kommt freilich ihre Sprache, die zu Klarheit erzieht und danach verlangt, das rechte, das einzig passende Wort zu finden, zu Hilfe. Wenn man die Bedingungen des Ancien Régime, die absolutistische Regierung Frankreichs vor der Revolution, hinzunimmt, als alles auf Paris und den Hof konzentriert war, verwundert es nicht, dass die meisten, wenn auch nicht alle, der großen französischen Moralisten auf die eine oder andere Weise mit Paris und Versailles verbunden waren.
Denn dort konnten sie wie unter einem Brennglas die wundersamen und ermüdenden Wendungen und Verrenkungen der menschlichen Seele studieren, die Menschen, die in Abscheu oder Verehrung um die Person des Königs kreisten und permanent Theater spielen mussten. Das war Anschauungsmaterial, das auf vielfältige Weise verarbeitet werden konnte.
„Krieg den Palästen, Friede den Hütten“
Kaum einer hat das eleganter getan als Nicolas Chamfort (1741-1794), der ziemlich am Ende einer langen Reihe steht, die mit Michel de Montaigne zwei Jahrhunderte früher begonnen hatte. Wie Blaise Pascal aus Clermont in der Auvergne stammend, wird er unehelich geboren und kirchlich erzogen. Wie so viele begabte junge Männer der Zeit trug er den Titel eines Abbé, hatte also die niederen Weihen, ohne je die Priesterweihe anzustreben. Hauslehrer oder Bibliothekar waren die üblichen Beschäftigungen. Nach einem Aufenthalt in Köln kam er so nach Paris, machte mit 24 Jahren durch eine Komödie, später mit einer Tragödie auf sich aufmerksam, wurde der geschätzte Gast aller Salons und errang das Wohlgefallen des Hofes.
Es lief alles nach Maß für den jungen, den Frauen sehr zugeneigten Mann: Man gewährte ihm eine jährliche Pension, er wurde Sekretär von Louis V., Prinz von Condé, und erklomm 1781 das Bollwerk französischer Geistigkeit, die Académie française. In den Wirbelwind der Zeit tauchte er voll ein, natürlich als Aufklärer, Gegner der Monarchie und deren Alliierter, der Kirche. Chamfort – von ihm stammt der Wahlspruch der Revolutionsarmee „Krieg den Palästen, Friede den Hütten“ – war nicht der einzige, dem dies am Ende nicht gut bekam. Den Girondisten zugeneigt, der noch eher bürgerlich geprägten, meist aus dem Süden des Landes stammenden Gruppe, die in der ersten Phase der Revolution maßgeblich waren, teilte er deren Schicksal.
Während ihm zunächst das Glück hold war und er zum Chef der Nationalbibliothek avancierte, begann mit dem Aufstieg der Montagnards, der radikaleren, grundsätzlich zu Gewalt bereiten Gruppe, und dem Terror Robespierres die blutige Epoche der Revolution.
Er tötete sich auf gründliche Weise selbst
Ihr fiel auch Chamfort zum Opfer, der sich nach Verdächtigungen und einem ersten Gefängnis-Aufenthalt auf äußerst gründliche und blutige Weise selbst tötete. Er wollte nicht noch einmal in die Hände der Häscher fallen. Von ihm bleiben Gedanken, Maximen und Reflexionen, die die Epoche der Aufklärung in einzigartiger Weise beleuchten, aber darüber hinaus ein „Theatrum humanum“ bieten, das Camus einen heimlichen Roman nannte, zugleich aber auch eine Geschichte der Einsamkeit. Den Anteil des Ressentiments am geistvollen Zynismus Chamforts darf man nicht unterschätzen: Er hatte den Außenseiter-Blick des Bastards, auch ist seine Verachtung der Religion der Tatsache zuzuschreiben, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit Sohn eines Domherrn war. So kann er mit innerer Überzeugung sagen: „Man soll täglich zum Frühstück eine Kröte schlucken, um den übrigen Tag (.) nichts mehr ekelhaft zu finden.“
Aber nicht nur Bitterkeit, sondern echt-französische Clarté findet sich: „Die Gesellschaft ist nicht, wie man gewöhnlich glaubt, die Weiterentwicklung der Natur, sondern deren Zersetzung und vollständige Umgestaltung. Sie ist ein zweites Gebäude, das mit den Trümmern des ersten gebaut wird. Halb erfreut und halb überrascht findet man darin dessen Überreste wieder – Man muss zugeben, dass es unmöglich ist, in der Welt zu leben, ohne hin und wieder Komödie zu spielen. Es nur im Notfall zu tun und um der Gefahr zu entgehen, unterscheidet den Ehrenmann vom Spitzbuben, der den Gelegenheiten zuvorkommt“.
Chamfort beobachtete: „In großen Dingen zeigen sich die Menschen so, wie es für sie zweckmäßig ist, sich zu zeigen; in kleinen zeigen sie sich so, wie sie sind.“ Daher gilt: „Es gibt wenige Laster, die jemanden so sehr daran hindern, viele Freunde zu haben, wie das, allzu große Charaktervorzüge zu besitzen.“ Immer wieder bricht der Adelshass in ihm, der sich selber ein ,de‘ zulegte, hervor, weil er sah, dass selbst intelligente Menschen im höfischen Dunstkreis vor keiner Dummheit zurückschrecken, um Gefallen zu finden.
Nicht mehr sein wollen, als man kann
Er aber meint: „Um glücklich in der Welt zu leben, muss man gewisse Seiten seines Seelenlebens vollständig lähmen können.“ Besser noch: „In der Naturordnung wie in der gesellschaftlichen Ordnung darf man nicht mehr sein wollen, als man kann.“ Immer gilt: „Die Gesellschaft besteht aus zwei Klassen: die einen haben mehr Essen als Appetit, die anderen mehr Appetit als Essen.“ Wieder den Außenseiter verrät: „Wer in der Welt gefallen will, muss sich dazu entschließen, sich vieles, was er weiß, von Leuten beibringen zu lassen, die davon nichts verstehen.“ Und: „Niemand hat mehr Feinde in der Welt als ein aufrechter, stolzer, gefühlvoller Mensch, der Personen und Dinge nimmt, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen.“ Doch bleibt Chamfort ein stolzer gallischer Intellektueller: „Will das Glück zu mir gelangen, so nur unter Bedingungen, die ihm mein Charakter auferlegt.“
Mit dem Nationalcharakter geht er streng ins Gericht: „Frankreich, das Land, wo es oft nützlich ist, seine Laster, und immer gefährlich, seine Tugenden zu zeigen.“ „In Frankreich lässt man die Brandstifter in Ruhe und verfolgt die, welche die Sturmglocke läuten.“ Zur Realität vor der Revolution: „Es ist unbestreitbar, dass es in Frankreich sieben Millionen Menschen gibt, die um Almosen betteln, und zwölf Millionen, die nicht imstande sind, sie zu geben.“ Und der Unterschied zum westlichen Nachbarn: „Der Engländer achtet das Gesetz und widersetzt sich der Autorität oder missachtet sie. Der Franzose hingegen achtet die Autorität und missachtet das Gesetz.“
So ist sublime Klugheit in den Sprach-Perlen Chamforts ebenso zu finden wie der Schalk: „Ich habe in meinem Leben nur eine einzige Bosheit begangen! Wann hört sie auf?“, fragt der Andere.
Eine Philosophie bar jeder Metaphysik
Doch tut man den schwungvollen Reflexionen des Franzosen unrecht, wenn man sie nur als literarischen Niederschlag einer um sich selbst kreisenden Hof-Gesellschaft sieht, in der das schnelle Wort, die rasche und witzige Reaktion das Eintritts-Billett darstellte. Es lässt sich schon eine Philosophie daraus destillieren, die allerdings bar jeder Metaphysik ist: „Genieße und bereite Genuss, ohne Dir oder jemand anderem zu schaden. Das ist, glaube ich, die ganze Moral.“ Zu sagen: „Der Grundsatz in jeder Gesellschaft lautet, sich selbst und den anderen gerecht zu werden. Wenn man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst, so ist es mindestens ebenso gerecht, sich selbst zu lieben wie seinen Nächsten“, gräbt nicht allzu tief. Gott darf froh sein, wenn er von Chamfort als der „Abwesende“ bezeichnet wird.
Jede Seite dieser sehr vollständigen Werk-Ausgabe, die neben den Maximen auch die nach Art von Mini-Theaterstücken angelegten philosophische Dialoge und mehrere Reden des Autors versammelt, ist nur vor dem Hintergrund einer zu Ende gehenden Zivilisation zu verstehen, der der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, weil der Vulkan vor dem Ausbruch stand. Chamfort wusste das, er war einverstanden damit, obwohl es ihn das Leben kosten würde. Zu rühmen an diesem schön gebundenen Band ist die hervorragende Übersetzungsleistung von Ulrich Kunzmann und Fritz Schalk, die das eigentlich Unmögliche – die Eleganz des Originals zu erhalten – erreicht hat. Sie wird die Standard-Ausgabe der Bosheiten und Weisheiten des Franzosen bleiben.
Nicolas Chamfort: Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann und Fritz Schalk, herausgegeben von Ulrich Kunzmann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2022, 480 Seiten, ISBN 978-3-88221-888-6, EUR 38,-
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