Über kaum ein Thema lässt sich so trefflich philosophieren wie über die Zeit. Denn die Zeit ist ebenso grundlegend wie rätselhaft. Alle materiellen Dinge unterliegen der Zeit, ebenso vollzieht sich all unser Denken, Sprechen und Handeln in der Zeit. Unsere Existenz als solche ist zeitlich. Zugleich aber steckt die Zeit voller Paradoxien. Wenn man etwa die drei Dimensionen der Zeit betrachtet – die Zukunft, die Vergangenheit und die Gegenwart –, so scheint nur die Gegenwart etwas Reales, Existierendes, zu sein, denn die Vergangenheit ist ja nicht mehr und die Zukunft noch nicht.
Die Gegenwart selbst aber ist entweder ausgedehnt oder nicht. Wenn sie ausgedehnt ist, scheint sie sich in das Nichts von Zukunft und Vergangenheit zu erstrecken. Real oder existent scheint wiederum bloß die reine, ausdehnungslose Gegenwart, das Jetzt, sein zu können. Was aber soll dieses ausdehnungslose Jetzt überhaupt sein, wenn nicht absolute Flüchtigkeit, also Nichts?
Geistreiches über das Jetzt
Von diesem Paradox der Nichtigkeit der Zeit und der Flüchtigkeit der Gegenwart nimmt Malte Oppermanns Text „Das Wesentliche über das Jetzt“ seinen Ausgang. Den Leser erwartet keine trockene akademische Abhandlung, sondern ein höchst geistreicher Text voller sprachlicher Bilder, die erfreulich eigenständig und anregend statt abgegriffen sind. Der äußeren Form nach wirkt der kurze, kaum dreißig Seiten umfassende Text zunächst wie eine Aphorismensammlung. In Wahrheit aber entwickelt Oppermann mithilfe von kurzen, nie mehr als eine Seite umfassenden Reflexionen eine systematische Gedankenführung über das Wesen der Gegenwart.
Dabei offenbart er zwischen den Zeilen ein fundiertes Wissen der philosophiehistorischen wie zeitgenössischen Positionen auf diesem Gebiet. Einen gewissen Bruch mit der aphoristischen Form stellt jedoch der fast genauso viele Seiten wie der Haupttext umfassende Anmerkungsteil am Ende des Buches dar. Hier wird, vielleicht ohne Not, ein Element jener akademischen Literatur eingeführt, von deren typischer bedeutungsloser Kleinkariertheit sich Oppermanns Werk sonst wohltuend unterscheidet.
Das Verhältnis der Zeit zur Ewigkeit
Besondere Anerkennung verdient Oppermann dafür, dass er in den Fokus rückt, was heute unter Philosophen weitgehend in Vergessenheit geraten ist: das Verhältnis der Zeit zur Ewigkeit. Die Gegenwart, so Oppermann, ist nämlich letztlich „ewig neu“ und als solche die stets neue Vollendung des göttlichen Schöpfungsaktes. Diese „kontinuierliche Schöpfung“ verortet Oppermann wiederum treffenderweise in der zeitlosen Ewigkeit Gottes. In der Gegenwart kreuzen sich also Ewigkeit und Zeit, treffen sich Schöpfer und Geschöpf. Man fühlt sich an Søren Kierkegaards Aussage erinnert, der Augenblick sei „nicht eigentlich Atom der Zeit, sondern Atom der Ewigkeit“.
Aus der Verbindung von kontinuierlich neu geschöpfter Gegenwart und göttlicher Ewigkeit zieht Oppermann schließlich erstaunliche existenzielle Konsequenzen: Wenn sich in der Gegenwart die Ewigkeit Gottes Bahn bricht, dann entpuppt sich das technische Verfügenwollen über die Zeit letztlich als ein selbstherrlicher, eitler Versuch. Als Alternative dazu skizziert Oppermann eine geradezu stoisch anmutende Ethik des Umgangs mit der Zeit: „Wenn alles Wichtige in jedem Augenblick geschieht, dann ist es voreilig, die Ursache unserer fundamentalen Mangelhaftigkeit in der Zeit zu suchen und beseitigen zu wollen.“
Was aber dann? Die von Oppermann angedeutete Antwort scheint zu lauten: Die Gegenwart gilt es als in sich vollendetes Geschenk Gottes, als stets neue Kostprobe seiner Ewigkeit und zugleich seiner Güte zu begreifen und zu genießen: „Jeden Augenblick als Vollendung der Welt zu betrachten, bedeutet, in ihm das Gute selbst zu erkennen, denn nur was unbedingt ein Gut ist, kann sein Ziel in sich selbst haben.“
Malte Oppermann: Das Wesentliche bezüglich des Jetzt, Wien: Karolinger Verlag, 2024, 64 Seiten, gebunden, EUR 16,–
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