Soziologen sind dazu da, sich Gedanken über die Gesellschaft zu machen. Sie reflektieren, was unser Miteinander ausmacht und entwickeln Modelle, wenn es etwas zu verbessern gilt. Silke Ohlmeier hat mit ihrem neuen Buch „Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät“ genau das getan. Die Wissenschaftlerin ist überzeugt, dass Langeweile nicht nur ein individuelles Gefühl ist, das jeden Menschen hin und wieder befällt, sondern dass darüber hinaus Teile unserer Gesellschaft deshalb unter chronischer Langeweile leiden, weil die Ordnung unseres Gemeinwesens Defizite aufweist. Mit anderen Worten: Langeweile hat politische Ursachen und ist genau deshalb selbst ein Politikum. Mehr noch: Die Forscherin glaubt, dass sich, wenn die Umstände, die zu der von ihr diagnostizierten chronischen Langeweile führen, nicht geändert werden und Vater Staat nichts tut, um seine Bürger wieder in einen inspirierten Zustand zu versetzen, daraus ein revolutionäres Potenzial entstehen könnte.
Diese steilen Thesen werfen eine Menge Fragen auf. Die erste: Was genau ist Langeweile? Dies zu definieren fällt auch Silke Ohlmeier schwer, denn tatsächlich ist Langeweile ein sehr subjektives Gefühl und lässt sich kaum in die von ihr aufgestellte Formel bringen: „Langeweile ist das aversive Gefühl, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen, aber nicht zu können.“ Der eine langweilt sich, weil er etwas tut, anstatt sich dem Nichtstun hinzugeben, der andere, weil er etwas anderes tut, als er gerne täte und wieder ein anderer verspürt dieses unangenehme Gefühl, weil er überhaupt nichts tut. Nichts davon aber ist zwangsläufig. Vielleicht ist darum in unserer Gesellschaft, in der die Menschen so viel von anderen und so wenig von sich selbst erwarten, das Gefühl, für den Umgang mit der Langeweile selbst zuständig zu sein, immer noch so weit verbreitet. Denn zu einem anderen zu gehen, zu sagen: „Mach, dass das weg geht“, und zu hoffen, dass er oder sie die Langeweile mit einem Fingerschnipsen, einem brillanten Unterhaltungsprogramm oder dem Wedeln eines Zauberstabs zu vertreiben, kommt auch den unselbstständigsten Individuen allzu kindisch vor, um es dauerhaft zu fordern.
Wertschätzung kommt nicht durch das Geld
Wenn also eine Jugendliche eine kaufmännische Lehre macht – wie Ohlmeier es vor ihrem Studium der Soziologie tat – und die gestellten Aufgaben öde findet, ist es kein Wunder, wenn der freundliche Nachbar ihr sagt: „So ist das nun mal. Deshalb heißt Arbeit ja Arbeit, weil sie keine Freizeit ist.“ Andere raten zur Fremdbeschäftigung und wieder andere argumentieren zu Recht, es sei besser, eine langweilige als überhaupt keine Arbeit zu haben. Der Staat kann an dieser Stelle nicht nur wenig, sondern tatsächlich überhaupt nichts tun. Denn ob eine Arbeit als langweilig oder erfüllend erfahren wird, erlebt jeder anders, weshalb der freundliche Straßenkehrer in der Kindergeschichte Momo von Michael Ende ein glücklicher Mann war, weil er seine Aufgabe als wichtig und folglich als sinnstiftend wahrnahm. Aber wie verhält es sich mit Tätigkeiten, die häufig als langweilig beschrieben werden wie beispielsweise Hausarbeit, Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen? Hier argumentiert Ohlmeier, dass die Langeweile deshalb aufkommt, weil diese Tätigkeiten nicht bezahlt werden und diejenigen, die sie ausüben, mangelnde Wertschätzung erfahren. Daran mag etwas Wahres sein.
Im Kern aber ist auch diese Schlussfolgerung nicht logisch. Denn Wertschätzung wird nicht primär über die pekuniäre Ebene vermittelt, sonst müsste eine gut bezahlte Rechtsanwältin, die sich in ihrem Beruf langweilt und lieber Heilpraktikern wäre, ihre Aufgabe ja automatisch spannend finden. Offenbar geht es also bei dem Entstehen und der Behebung von Langeweile letztlich um etwas anderes als ums liebe Geld. Auch wenn es natürlich hilfreich wäre, wenn Männer und Frauen in unserer Gesellschaft gleich bezahlt würden und man deshalb auch von beiden gleichermaßen erwarten könnte, dass sie in Elternzeit gehen, selbst wenn sie Windeln wechseln und Bauklötze stapeln im Alltag manchmal langweiliger finden als ihren Beruf.
Der Schlüssel im Herzen
Tatsächlich findet sich der Schlüssel zum Umgang mit der nicht zu vermeidenden aber behebbaren Langeweile dort, wo die meisten Schlüssel verwahrt sind, im menschlichen Herzen. Auch wenn das dem einen oder anderen nicht gefallen mag: Jeder ist, zumindest im Hinblick auf das Gefühl der Langeweile, seines eigenen Glückes Schmied. Denn keine Arbeit ist langweilig, wenn man ihr einen Sinn verleiht. Ein Beispiel aus der Esoterik kann dies verdeutlichen. Wer die Trends auf dem Markt der magischen Möglichkeiten verfolgt, wird schnell feststellen, dass die ödeste aller Aufgaben, das Staubwischen und Putzen dort eine Hauptrolle spielt. Kein neues Hexenbuch, in dem nicht die gründliche magische Reinigung der eigenen vier Wände empfohlen wird, um wieder neuen Schwung ins Leben zu bringen, die Inspiration zu wecken und der Seele Flügel zu verleihen. Aber man muss nicht gleich zum Magier werden. Es hilft auch schon, wenn man die Aufgaben, die man verrichtet, aus Liebe tut, damit es den anderen im Haus gut geht und alle sich wohlfühlen.
Welche Wirkung eine gern getane Arbeit entfaltet, können wir aus einer anderen Kindergeschichte lernen. Tom Sawyer ist keineswegs ein Musterknabe. Er prügelt sich, er schwänzt die Schule und bringt mehr als einmal Tante Polly, bei der er nach dem Tod seiner Eltern lebt, zur Weißglut. Als er dafür einmal zur Strafe ihren Zaun streichen muss, kann man sich vorstellen, dass er diese langweilige Aufgabe nicht gerade mit Begeisterung beginnt, umso mehr, als seine Kameraden es sich nicht nehmen lassen, den zur Zwangsarbeit verurteilen Anstreicher zu verspotten. Aber da dreht Tom den Spieß um und erklärt, dass nur ein Fachmann genau die richtige Kalkmischung anrühren und gleichmäßig aufstreichen könne. Das weckt die Neugier der Zuschauer. Sie spüren, wie begeistert Tom ist und möchten genau dieses Empfinden teilen. Darum endet die Strafarbeit für Tom in einem erfolgreichen Businessplan. Denn er lässt nun die anderen – selbstverständlich gegen ein angemessenes Entgelt – Latte für Latte streichen, bis der ganze Zaun in neuem Glanz erstrahlt.
Umgang mit Wischlappen, Tellern oder Tastatur
Seine Fähigkeit, die ihm auferlegte Tätigkeit wie auch seine Rolle umzudeuten, vertrieb die Langeweile wirksam. Sein Tun hatte plötzlich einen Sinn. Genau der aber ist es, der uns, wie Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie, lehrt, nicht nur durch die grauen Stunden der Langeweile, sondern sogar durch noch viel dunklere Stunden unseres Lebens tragen kann. Eine Tätigkeit oder ein Zustand, den wir ertragen, weil wir ihm einen Sinn abzugewinnen vermögen, ist besser erträglich, weil das Erleben in Perspektive gesetzt wird.
Wie eine solche Perspektive aussehen und wie sie den Alltag grundlegend wandeln kann, lehrt die Regel des heiligen Benedikt. Sie besagt, dass man alle Gerätschaften des Klosters wie heiliges Altargerät behandeln soll. Der wertschätzende Umgang mit Wischlappen, Tellern oder der heutigen Tastatur verändert nicht nur die Wahrnehmung dieser Gegenstände, sondern rückt auch denjenigen, der sie in dieser aufmerksamen und wertschätzenden Form verwendet, in ein anderes ganz und gar lebendiges Licht. Dieses Leuchten aber, das ein Strahl des göttlichen Glanzes ist, vertreibt wirksamer als alle anderen Methoden negative Gefühle jeder Art, ganz sicher aber die Langeweile.
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