Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Buchrezension

Irene Vallejo: Über die Macht der Worte

Die Philologin Irene Vallejo hat mit „Papyrus“ eine spannende Geschichte des Buchs und der Lesekultur geschrieben.
Der Kalif Omar, Umar ibn al-Chattab, lässt die Bibliothek zu Alexandria verbrennen
Foto: H.Tschanz-Hofmann via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Die legendäre Universalbibliothek von Alexandria galt und gilt bis heute als Symbol für eine weltoffene, grenzüberschreitende Politik, wie sie bereits Alexander vertreten hatte.

Ein Buch zu schreiben über die Entstehungsgeschichte des Buches ist ein waghalsiges Unterfangen – allzu leicht könnte eine staubtrockene Angelegenheit daraus werden. Ist die Ausgangsposition jedoch eine unbändige Leseleidenschaft, gepaart mit Liebe zur Antike und Interesse an den Menschen aller Kulturen wie bei der spanischen Autorin Irene Vallejo, so kann die Gratwanderung gelingen.

Die 1979 in Saragossa geborene Philologin und Schriftstellerin legt hier ihr erstes Sachbuch vor, wobei diese Kategorisierung nicht wirklich zutrifft, enthält das über 700 Seiten starke Werk neben den Fakten doch zahlreiche Erzählstränge, die sich arabeskengleich um die Geschehnisse herumwinden und phantasievolle Annäherungen an die Menschen und Situationen ermöglichen.

Historische Reise durch die Geschichte der Bibliotheken

Schon der Prolog beginnt wie ein Western: Beschrieben werden die im dritten Jahrhundert vor Christus das antike Griechenland durchstreifende berittene Jäger auf der Suche nach speziellen Schätzen: Sie suchten Bücher für die berühmte Bibliothek von Alexandria. Der ehemalige Feldherr Ptolemaios I. übernahm bald nach dem Tod Alexanders des Großen (356-323 v. Chr.), auf den der Bau der Planstadt Alexandria zurückgeht, die Herrschaft über Ägypten. Die Errichtung des „Museions“ und die Sammlung der ersten Schriften, vermutlich auch der Bau der Bibliothek, erfolgten wahrscheinlich in seiner Regierungszeit, möglicherweise zwischen 290 und 282 v. Chr. Der König und seine Nachfolger hatten (wie schon Alexander) den Ehrgeiz, Schriftrollen aus möglichst allen Wissensgebieten anzukaufen, auch um sich von anderen Bildungsstandorten abzuheben. Die legendäre Universalbibliothek von Alexandria galt und gilt bis heute als Symbol für eine weltoffene, grenzüberschreitende Politik, wie sie bereits Alexander vertreten hatte.

Ausgehend von Alexandria beginnt Irene Vallejo ihre historische Reise durch die Geschichte der Bibliotheken, des Buchs und damit verbunden auch der der Schrift und des Lesens. Da wird nicht chronologisch aufgelistet, sondern in den Zeiten und Kulturen umherschweifend fabuliert; mit realen oder doch möglichen Situationsschilderungen erfahren wir etwas über Keilschrift und Hieroglyphen, über Tontafeln und Schriftrollen aus Papyrus, vom ersten gebundenen Kodex aus pergamentenen Tierhäuten bis zu unserem gedruckten Papierbuch und zum E-Book, auch über Herstellungsverfahren, Aufbewahrungsmöglichkeiten und Vermarktung – Buchhandlungen zum Beispiel gab es schon im ersten Jahrhundert vor Christus.

Die ersten Texte kamen noch ohne Absätze und Zeichensetzung aus, weil sie, wie etwa bei den alten Griechen, vor Publikum laut vorgelesen wurden, man war ja die orale Überlieferung gewohnt. Dass es viele Jahrhunderte später mit der Erfindung des Radios möglich sein würde, unzählige Menschen zu erreichen, ohne sie vor sich zu haben und damit wieder auf ganz alte Traditionen zurückzukommen, stand noch in den Sternen. Wie auch der Literaturnobelpreis für einen Barden, den singenden Lyriker Bob Dylan, der 2016 die Gemüter erhitzte. Ob sich die Jury darüber im Klaren war, dass sie mit dieser Auswahl an die Antike anknüpfte mit ihren wandernden Musikanten, die singend die Welt erklärten?

Das Wort vermag das Göttlichste zu vollbringen

Immer wieder kommen Bibliotheken ins Spiel, ihre Bedeutung für die Wissenschaft, vor allem aber auch für lesehungrige Privatmenschen, die wie die Autorin ihre ersten Leseerfahrungen häufig im Kindesalter in der Leihbücherei machen durften. Nicht nur als Orte des Wissens öffnen sie ihre Türen, sie laden auch dazu ein, sich in der Gesellschaft der vielen Bücher und anderer Leser an einem Rückzugsort zu Hause und geborgen zu fühlen. „Papyrus“ ist also ein Werk, das von Lesern und Buchliebhabern (und ihren Feinden) erzählt, und so gut wie alle Facetten dieses komplexen Themas kommen zur Sprache, was eine Zusammenfassung des ungemein vielfältigen Inhalts schier unmöglich macht.

Die Macht, die dem geschriebenen Wort zugestanden wird, zieht sich durch alle Epochen. Der Sophist Gorgias schreibt im fünften Jahrhundert vor Christus: „Das Wort ist ein mächtiger Herrscher und vermag mit seinem winzigen, ja unsichtbaren Körper die göttlichsten Werke zu vollbringen: Angst zu nehmen, Schmerz zu zerstreuen, Freude einzuflößen und Mitgefühl zu steigern.“ Für Irene Vallejo klingt diese Idee in einem der für sie schönsten Sätze des Christentums wider: „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Auch Diktatoren wussten zu allen Zeiten um die Macht des Wortes und fürchteten ihr widerständiges Potenzial. Ovids „Liebeskunst“ wurde von Kaiser Augustus verboten, ein erster Fall von moralischer Zensur. Bücherverbrennungen waren keine Erfindung der Nationalsozialisten, schon Kaiser Diokletian ließ in Konstantinopel die Schriften der Christen verbrennen. „Fahrenheit 451“ ist die Temperatur, bei der Papier entflammt, und es ist auch der Titel von Ray Bradburys dystopischer Fantasie aus dem Jahr 1953, kongenial verfilmt von François Truffaut. Die Geschichte spielt in einem Land, in dem das Lesen verboten ist. Die Feuerwehr ist dazu da, Bücher zu verbrennen. Die Dissidenten lernen darum Texte der Weltliteratur auswendig und flüstern sie sich an geheimen Treffpunkten zu, damit kein einziges Wort verloren geht. Etwas Ähnliches hatte tatsächlich 213 vor Christus unter Kaiser Shihuangdi stattgefunden.

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Ein Buch voller Wunder

Wir denken heute dabei an die Fatwa, die 1989 über Salman Rushdi wegen seiner „Satanischen Verse“ verhängt wurde, und der jetzt ein Attentat knapp überlebt hat. Und an die aktuellen „Bereinigungen“ klassischer Werke und Kinderbücher von „rassistischen und kolonialistischen“ oder „diskriminierenden“ Aussagen, und nicht nur das: Inzwischen fordern Studenten an etlichen Universitäten, Werke von Platon, Descartes und Kant und anderen vom Lehrplan zu nehmen, weil sie von ideologisch Verblendeten als „Rassisten und Kolonialisten gelesen werden“. Was dürfen wir dann noch lesen, wenn wir uns alle denselben, gerade gültigen moralischen Werten unterwerfen? Das wird so sicher nicht funktionieren. Abgesehen davon, dass alles Verbotene besonders reizvoll erscheint und jedes Buch, das wegen einer Beschwerde dem Buchmarkt entzogen werden soll, die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen lässt. Im Gegensatz dazu stehen die schon früh vorgenommenen Übersetzungen von Literatur, öffneten sie doch den Weg zum Geist der anderen, deren Sprache man nicht mächtig war, und befreiten sie aus der Isolation.

„Papyrus“ ist ein Buch voller Wunder, wenn man sich darauf einlassen mag, zu lesen wie ein Abenteuerroman, der das Bewusstsein für den unermesslichen Wert der über Jahrtausende gewachsenen Literatur schärft und einen dankbar zurücklässt. Wenn auch der Untertitel etwas hochgegriffen sein mag – „die“ Geschichte der Welt in Büchern ist es dann doch nicht geworden, aber eine Entstehungsgeschichte mit dem Schwerpunkt auf der Antike sehr wohl.

 

Irene Vallejo: Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern. Aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby. 752 Seiten mit ausführlichen Anmerkungen, Diogenes Verlag, Zürich 2022, EUR 28,-

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